So., 15.10.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Frankreich: Sorge vor neuem Antisemitismus
Die Zahl der antisemitischen Straftaten und Festnahmen nimmt täglich zu, der Schutz jüdischer Einrichtungen wurde verstärkt, und viele Menschen fürchten, dass der Nahost-Krieg jetzt auch nach Frankreich importiert werden könnte. In der ältesten Banlieue von Paris, in Sarcelles, setzten sich Hedi und Eric für gute Nachbarschaft ein. Der 71-jährige Moslem und der koschere Bäcker wollen ihr Viertel erhalten, hier leben seit den 50er Jahren vor allem Juden aus Nordafrika, aber auch Muslime und Christen zusammen. Lange Zeit friedlich. Und das wollen sich die beiden nicht kaputtmachen lassen.
Kehrt der Terror zurück?
Der Imam verneigt sich vor den Opfern. Hassen Chalghoumi ist nach dem Angriff der Hamas zur großen Synagoge von Paris gekommen. Draußen patrouilliert Polizei, in Nahost ist Krieg. Der Imam und der Rabbiner Joël Mergui sind enge Weggefährten. Seit Jahren. Juden, Muslime, Christen sind an diesem Abend hier, erschüttert von den jüngsten Ereignissen: "Mehr als Tausend… Tausend unserer Schwestern, Brüder und Kinder sind barbarisch von Islamisten ermordet worden", klagt Joël Mergui. "Wir können nur noch um sie weinen...!"
Die Gedanken sind in Israel. Aber hier ist auch die Erinnerung an die islamistischen Anschläge im eigenen Land noch gegenwärtig. Und die große Sorge ist: Der Terror kehrt zurück. Auch der Imam hat diese Gefahr vor Augen. "Aber natürlich! Die Islamisten, die Muslimbrüder und die französische Linksextreme verbreiten den Hass in den sozialen Netzwerken, und wir dürfen nicht zulassen, dass der Nahost-Konflikt hierher transportiert wird." Klein Jerusalem. Sarcelles ist die älteste Trabentenstadt vor Paris. Seit den 50er Jahren leben hier vor allem Juden aus Nordafrika, aber auch Muslime und Christen. Lange eine friedliche Koexistenz. 2014 aber erschütterten antisemitische Anschläge Sarcelles – es war ein blutiger Sonntag in der grauen Vorstadt.
Im jüdischen Viertel patrouilliert jetzt die Polizei
Eric Benaïs führt seine koschere Bäckerei in Sarcelles seit 30 Jahren, seine Törtchen und Süßspeisen sind berühmt. Doch in seinem Café im Zentrum von Sarcelles hat er das Gefühl, die Stimmung in der Stadt verändert sich: "Ja. Man spürt schon eine gewisse Spannung, je später es wird .... Ah, da kommt der Bürgermeister!" – "Ça va? – Wie geht’s?" Der Bürgermeister von Sarcelles, zusammen mit dem Polizeipräfekten. Sie machen die Runde bei den jüdischen Geschäftsleuten: "Wie läufts? Gibt’s Probleme?" – "Es zirkuliert eine Nachricht im Netz, Achtung: Freitag der 13. Das sollte man mal verifizieren…"
"Auf jeden Fall! Wenn was ist, bitte melden! Wir nehmen das wirklich sehr ernst!" Eric ist im Augenblick nicht sonderlich beunruhigt. "Ich habe keine Angst vor den Leuten aus dem Viertel, ich habe Angst vor den jungen Kerlen, die von außerhalb kommen." In Sarcelles patrouilliert jetzt die Polizei auf der Straße. Und nicht nur hier. Pro-Palästina-Demo in Paris: "Israel, Mörder!" schreien sie, viele junge Franzosen sind darunter. Trotz des Verbots sind Tausende gekommen und die Polizei zeigt sich alarmiert.
Hedi Labaied ist eine Institution in Sarcelles. Der 71jährige kümmert sich ums Quartier. Fahrräder reparieren, Nachbarn helfen. Hedi selbst ist Muslim – aber er fragt nicht nach Herkunft und Religion. "Wir arbeiten hier jetzt enger denn je zusammen." Hedi leitet einen Verein für Nachbarschaftshilfe, sammelt alles, was man noch gebrauchen kann. Er ist ein passionierter Schrauber. Jeden Tag ist er in seiner Werkstatt und hört, was die Leute reden – jetzt, wo in Nahost Krieg herrscht: "Hier in Sarcelles wird es ruhig bleiben, dafür haben wir uns seit Jahren in den Vereinen gearbeitet. Egal, was in Israel passiert: das gehört nicht nach Sarcelles."
Noch leben Juden und Muslime friedlich zusammen
Nicht in Sarcelles, aber in Nordfrankreich: Freitag, der 13. Eine tödliche Messerattacke an einer Schule. Der Täter: Ein 20-Jähriger tschetschenischer Djihaddist. Der Präsident eilt zum Tatort. Frankreich verhängt die höchste Terrorwarnstufe. Markttag in Sarcelles. Es ist Wochenende, auch Hedi ist unterwegs. Das Angebot ist so vielfältig wie die Menschen, die sich zwischen den Ständen drängen.
Die alarmierenden Nachrichten und der Krieg in Nahost, sorgen hier einstweilen nicht für Unruhe. "Klar hoffe ich, dass das so bleibt", meint Akram Raouli. "Jeder hat seine Ansicht und ich danke Frankreich für die Meinungsfreiheit hier." Aïcha Azzouz sagt: "Man darf die Probleme von da hinten nicht hierher bringen. Jeder kann sagen, was er denkt. Das hier ist nicht unser Land, aber wir respektieren es." Hier funktioniert das Zusammenleben – davon ist auch Hedi überzeugt. Aber es bleibt die Frage, ob es auch hält.
Autorin: Sabine Rau, ARD-Studio Paris
Stand: 16.10.2023 10:05 Uhr
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