So., 24.11.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Gaza: Eine junge Sängerin kämpft für ein Leben in Freiheit und Frieden
Dieser Spiegel hat auch schon oft eine weinende, verzweifelte Frau gesehen. Aber immer eine, die nicht aufgibt. Die sich wieder aufrichtet, sich zulächelt, weiterkämpft. Für ihren Traum von einem Leben als Sängerin, selbstbestimmt, in Freiheit. Weit weg von ihrem täglichen Albtraum im Gaza-Streifen.
Auf Facebook hat Wafaa Alnajili Proben ihrer Kunst veröffentlicht. Eine Stimme, die Seelen zum Fliegen bringen kann. Und die Viele, in der streng islamischen Macho-Gesellschaft deshalb Verstummen lassen wollen. "Einer meiner Cousins hat meinen Vater angerufen: Deine Tochter ist eine Sängerin, ha? Sie hat ihre Fotos und Lieder auf Facebook veröffentlicht. Was glaubst, Du wo wir leben? In Amerika? Nein, wir sind in Gaza! Sorg dafür, dass das aufhört", erzählt Wafaa.
Dass Wafaa singt, ist für Gaza-Verhältnisse noch die kleinste Provokation. Aber sie tut es sogar auf Englisch. Ihre Kleidung ist westlich, das Kopftuch sitzt hinterm Haaransatz. Sie ist mit 27 noch unverheiratet, lebt trotzdem nicht mehr bei den Eltern. Und sie hat den Mut offen auszusprechen, was andere nicht mal zu denken wagen:
"Ich habe nicht das Gefühl, dass Gaza mein Land ist und ich hier bleiben möchte", sagt Wafaa. "Jahr für Jahr in diesem Scheißleben. Und dass ich dieses Leben und dieses Land dann auch noch verteidigen soll. So ein Schwachsinn! Ich will einfach nur leben, frei. Mein eigenes Leben, meinen eigenen Job haben. Ohne Angst. In Frieden, Liebe, Glück!"
Ein kleines Zimmer und Gelegenheitsjobs – ihr Leben in Gaza-City
Sie hat ein kleines Zimmer in Gaza-City gemietet. Wafaa hat Krankenschwester gelernt. Aber keinen Job gefunden. Keine Wunder, die Wirtschaft in Gaza ist am kollabieren. Jetzt hält sie sich mit Gelegenheitsjobs gerade so über Wasser. Ihre größte Angst ist, dass ihr Geld nicht mehr für das unabhängige Leben reicht: "Ich bin so glücklich, dass ich alleine leben kann. Meinen eigenen Rückzugsort habe."
Allein aber nicht einsam. Wafaa hat mit Mohamed seit Jahren einen Musiker-Freund, der zu ihr steht, genauso wie sie ist. Für unseren Dreh darf er zum ersten Mal in ihr kleines Reich. Die beiden hier nur zu zweit wäre für diese Gesellschaft undenkbar.
"Dieses Bild habe ich aus unseren beiden Portraitfotos zusammengesetzt. Mohamed ist mein Seelenverwandter", sagt Wafaa. Denn auch Mohamed lebt für die Musik. Spielt in einer Band. Diese Gitarre hat er Wafaa geschenkt.
Musik sei Zeitverschwendung, finden die Eltern ihres Freundes
Mohameds Eltern halten nichts vom musikalischen Talent ihres Sohnes. Seine größte Leidenschaft betrachten sie als reine Zeitverschwendung, Teufelszeug. "Als ich einmal von Zuhause weg war, haben sie alle meine Instrumente zerstört", sagt Mohamed.
"Seine Familie lehnt auch mich ab", sagt Wafaa. "Absolut! Sein Vater hat zu ihm gesagt: Dieses Mädchen ist eine Sängerin, sie ist eine aufgeschlossene Person, das ist keine gute Frau für dich. Keine mit der du dich verloben darfst. Du wirst eine andere finden."
Aber: Will er denn eine andere? "Gibt’s denn eine andere?" Witzelt Mohamed zurück.
Anders als Mohameds Eltern hat Wafaas Familie akzeptiert, dass die beiden gemeinsam Musik machen. Jetzt fahren sie gemeinsam zu Besuch bei Wafaas Eltern und Geschwister. Sie leben in der Kleinstadt Rafah ganz im Süden des Gaza-Streifens.
Wenn das Leben in Gaza-City für Wafaa ein Albtraum ist, dann ist Rafah die Hölle. Im Ranking der islamischen Hochburgen und was Armut in Gaza betrifft, liegt sie klar vorn. Auch wir spüren den Unterschied. In Gaza-City konnten wir vom Auto aus filmen. Bei der Einfahrt nach Rafah stoppt uns sofort die Polizei.
Waafas Vater hat er einen Talentwettbewerb in Israel gewonnen
Gaza ist eine Gesellschaft in Angst. Als wir endlich bei Wafaas Vater ankommen, lotst er uns schnellstmöglich ins Haus. Die Nachbarn sollen nichts mitbekommen. Denn er weiß, seine ganze Familie gilt hier als suspekt. Außenseiter. Denn alle sind Musiker.
Wafaas Vater sogar ein berühmter. Vor Jahrzehnten hat er einen Talentwettbewerb in Israel gewonnen. Damals viele Konzerte in Haifa oder Tel Aviv gegeben. Aber das war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt, als sie noch frei reisen konnten. Bevor die Hamas 2007 die Kontrolle übernahm und Israel und Ägypten den Gaza-Streifen abriegelten. Seitdem hat sich ihr Leben in einzigen Albtraum verwandelt.
Der Vater erinnert sich noch genau an die Zeiten, als die Musik ihn über alle Grenzen hinweg mit Menschen verband. Heute sind sie gefangen in einem Käfig. "Ich bin überhaupt nicht glücklich, dass Wafaa in einer anderen Stadt lebt", sagt Abed Elfatah. "Aber ich verstehe doch auch genau, dass sie aus der Realität fliehen möchte, in der wir sind."
Der Vater lässt seine rebellische Tochter also ungern aber doch wieder ziehen – zurück nach Gaza-City, wo sich das Leben für sie wenigstens ein klein wenig freier anfühlt. Auch weil es hier Menschen gibt, die sie und ihren Freund Mohamed verstehen. Die so denken, wie sie. Und die hier ihren Treffpunkt haben: In einem Café, das wegen seiner Weltoffenheit und Lebensfreude für den Gaza-Streifen so außergewöhnlich wie einmalig ist. Hier können sie wenigstens für ein paar Stunden der Realität entfliehen.
"Wenn ich die Augen schließe, dann träume ich davon, dass ich sie wieder aufmache und plötzlich an einem ganz anderen Ort bin, weit weg aus Gaza", sagt Wafaa. "Denn hier gibt es doch keine Hoffnung, keine Zukunft für uns. Echt, noch ein weiteres Jahr hier halte ich nicht aus. Allein der Gedanke bringt mich um!"
Aber Wafaa ist keine die aufgibt. Sondern eine Frau, die für ihre Träume kämpft.
Autorin: Susanne Glass, ARD Tel Aviv
Stand: 24.11.2019 20:30 Uhr
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