So., 04.07.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Griechenland: Aus Moria in die Welt der Mode
Großstädtische Sommermode kombiniert mit asiatischer Tradition in einem Park in Athen. Sie entwirft diese Kreationen, Shafi Qias, 35 Jahre alt. Sie kommt aus dem Flüchtlingscamp Moria. Geboren in Afghanistan. Mit ihrer Familie hat sie eine unendlich lange Reise hinter sich. Aber jetzt hat Shafi ein weiteres, wichtiges Ziel erreicht: ihre eigene Modekollektion. "Es war so schön! Ich fühle mich so gut jetzt. Die Models sahen so toll aus und waren so nett. Ich habe immer davon geträumt, dass das passiert!", erzählt die Modedesignerin.
Jedes Kleidungsstück erzählt eine Geschichte
In einer kleinen Stadtwohnung schneidert sie ihre Entwürfe und übernimmt Näharbeiten. Das hat sie schon mit 14 Jahren von ihrer Mutter gelernt. Heute sichert es ihr den Lebensunterhalt: "Meine Mutter hat als Schneiderin gearbeitet, so wie ich jetzt. Sie sagte mir: Du musst das auch können, denn vielleicht wirst du es in Zukunft mal brauchen. Und sie hatte Recht."
Mit ihrer Kollektion will sie aber mehr als nur Geld verdienen. Sie will eine Geschichte erzählen. "Dieses Kleid ist so wichtig für mich, weil ich zwei Kulturen in einem Kleidungsstück verbunden habe. Das Muster kommt aus der Heimat meiner Großeltern, Tatschikistan. Es hat lange Ärmel, aber mit einem Schlitz. Und eine Seite ist länger als die andere. Das Gleiche unten. Die Europäer haben also ein kurzes Kleid, die Menschen aus meiner Heimat ein Langes", sagt Shafi Qias.
Der Weg aus dem Flüchtlingscamp ist schwer
Tausende Menschen aus unterschiedlichen Kulturen flüchten jedes Jahr auf die griechischen Inseln oder das Festland. Shafi teilte dieses Schicksal – sprach anfangs kein Griechisch, war ohne Arbeit, hatte kein Zuhause. Aber sie hatte Talent und genug Kraft, um weiterzukommen. Andere harren hier seit Jahren aus: "Wir sind vor zwei Jahren nach Griechenland gekommen, aber ich kann nicht in die Schule gehen. Ich lerne Englisch mit Youtube, aber das habe ich jetzt aufgehört und lerne Deutsch. Ah, ihr kommt aus Deutschland, sehr gut."
Immer mehr Menschen kommen und erzählen uns ihre Geschichte. Es gibt wenig Hilfe, auch für diejenigen, die Asyl erhalten. Griechenland steckt selbst in einer schweren wirtschaftlichen Krise, junge Leute finden keine Arbeit. Manche schaffen es, ein Zimmer zu bekommen, doch ohne Job ist das kaum möglich. Shafi ist es gelungen: In einem der bunten Viertel Athens findet sie eine kleine Wohnung, kann durch ihre Schneiderarbeiten die Miete zahlen. Moria liegt hinter ihr: "Das war extrem traumatisch. Als wir planten nach Europa zu gehen, hatte ich Träume von Europa. Aber nach drei Monaten in Moria dachte ich, ich lebe nicht mehr. So war es."
Interkulturelle Verbundenheit durch Mode
Hier kauft sie die Stoffe für ihre Kleider. Der Besitzer dieses Ladens kennt Shafi inzwischen und macht ihr gute Preise. Besonders für weiße Stoffe schwärmt die Modedesignerin, daraus soll ihre nächste Kollektion entstehen. "Weiß beruhigt mich und dann fühle ich Frieden", sagt sie.
In Frieden zu leben und kreativ zu sein, das ist Shafis Lebenstraum. Und dabei hilft ihr Kasia, Freundin und Mentorin. Sie betreut mit ihrer gemeinnützigen Organisation 'Dila' talentierte junge Frauen, die als Flüchtlinge nach Athen kommen und hilft ihnen, auf eigenen Beinen zu stehen. Mit Erfolg. Die erste Kollektion wurde in der griechischen Vogue gezeigt. "Dila verfolgt zwei Ziele: Die Frauen selbst zu unterstützen und wir finden es auch wichtig, die Ästhetik, Stimmen und Visionen von Migrantinnen und Nicht-Europäerinnen in der Kultur zu verankern und ihnen eine Plattform zu geben", erzählt Kasia. Die ersten Erfolge haben sie enorm motiviert. Jetzt soll es weitergehen: "Zuerst einmal möchte ich ein Business aufbauen und eine Marke, ja, das ist tatsächlich mein Ziel."
Viele neue Freunde und Bekannte unterstützen Shafi in Athen, trotzdem vermisst sie ihre Familie. Die lebt inzwischen in Deutschland, in einem Flüchtlingsheim. "Drei Generationen meiner Familie flohen schon, um endlich an einen ruhigen Ort zu kommen, wo sie ein Dach über dem Kopf haben. Deswegen will ich für sie, dass sie endlich ein Zuhause finden und glücklich sind", sagt die Modedesignerin.
Shafi ergreift ihre Chance in Griechenland. Ob es einmal ihre Heimat wird, kann sie nicht sagen. Ihre Herkunft und ihre Vergangenheit will die junge Designerin jedenfalls nicht vergessen, sondern mitnehmen in ihr neues Leben – und zeigt das in den Farben und Formen ihrer Mode, die beide Kulturen miteinander verbindet: "Auch im echten Leben können wir zusammenleben, wir können zusammenarbeiten und die Welt gemeinsam gestalten, deswegen will ich mit meiner Mode zeigen, dass die Grenzen fließend sind."
Und wer Shafi erlebt, weiß, dass sie meint, was sie sagt – ihr Ziel klar im Blick.
Autorin: Anja Miller / ARD Studio Rom
Stand: 04.07.2021 20:26 Uhr
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