Mo., 20.02.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Griechenland: Eigeninitiative statt Lagerkoller
Wie Flüchtlinge ihr Camp selbst organisieren
Ja, hier entwickelt sich ein bisschen Industrie – langsam aber sicher, im Camp Oinofyta, wo seit neun Monaten ungefähr 600 Menschen leben und arbeiten. Flüchtlinge werden sie hier nicht genannt – sie sind Bewohner. Oinofyta ist wie ein kleines Dorf.
Dieser Brite ist gekommen, um den Menschen das Tischlern beizubringen: "Pah!", erzählt Adam Land, "das können die viel besser als ich. Sie schreinern und bauen hier wie verrückt. Sie bauen Möbel für die Essensausteilung, für die Schneiderei oder eben auch für ihre eigenen Zimmer. Und ich motiviere die Leute auch sich ihre eigenen Sachen zu bauen, statt welche zu kaufen."
Wir treffen Nesar: Der promovierte Mikrobiologe ist mit Frau und vier Kindern aus Afghanistan geflohen. Sie wurden bedroht und verfolgt. Seit einem halben Jahr sitzt er hier fest. Seine Frau und zwei seiner Kinder haben sich vor einiger Zeit nach Deutschland durchgeschlagen. Nesar koordiniert und übersetzt in Oinofyta. Besonders stolz ist er auf die 100 Hühner: "Es regnet gerade, deswegen sind sie alle im Haus. Sie legen viele Eier, aber nur wenn es warm ist."
Bewohner in der Verantwortung
Hühner oder Essensverteilung – die Bewohner kümmern sich um alles selbst. Jeder soll Verantwortung übernehmen. So mache das Leben in Oinofyta wenigstens Sinn, findet Nesar: "Wenn die Leute hier ankommen und registriert werden für das Camp, dann ist die erste Frage: 'Was hast du beruflich gemacht?'"
In Oinofyta haben sie in die alte Fabrikhalle kleine Wohneinheiten gebaut. Und am Ende des Flures neben einem Frisörsalon: Die Schneiderei. Die Produktion verantwortet ein junger Afghane. Niaomh ist Britin und koordiniert nur: "Seitdem wir mit den Leuten zusammen arbeiten, haben sie sich total verändert. Wir alle lieben unsere Arbeit. Ich liebe es mit ihnen zu arbeiten, jeder ist voll enthusiastisch. Wir arbeiten wie verrückt und müssen uns eher zwingen Feierabend zu machen."
Die Produktion beginnt
Taschen, Strickereien und Bücher – alles machen sie selbst und wollen es demnächst online verkaufen. Chef-Schneider ist Kais: 12 Jahre hat er in Afghanistan genäht. "Endlich", sagt er, "kann ich wieder was tun. Irgendwo brauchen sie vielleicht einen Schneider – ich könnte dann gerne dort arbeiten und meine Familie damit finanzieren."
Auch an die Kleinsten wurde gedacht und eine Schule gebaut. Sobald unter den Bewohnern Lehrer sind, sollen auch sie selbst unterrichten. Zwei der Schüler hier sind Nesars Söhne. Nesar denkt darüber nach, selbst Farsi zu unterrichten. Für ihn ist gute Bildung eine Lebensversicherung: "Ich sage den Leuten, sie sollen ihre Kinder zur Schule schicken. Sie wollen schon, aber manche Eltern, wie in der ganzen Welt, sind ein bisschen träge."
Trag' Deinen Teil bei
Eine amerikanische Hilfsorganisation betreibt Oinofyta. Lisa ist die Chefin und treibt das Geld ein. Ihr Ziel: die Bewohner nicht verhätscheln, sondern von Anfang an fordern. Das seien schließlich erwachsene Menschen. Lisa Campbell, Chef-Koordinatorin Oinofyta ("do your part"): "Ich habe dieses Konzept auch in anderen Regionen vorgestellt. Aber weißt du: die Bürokratie und viele Leute wollen lieber das klassische Containercamp bauen. Das will ich nicht. Mein Ziel ist, dass eine Gemeinschaft entsteht."
Nesar hat Feierabend. Hier wohnt er mit seinen Söhnen Said und Sohail. Vieles im Zimmer erinnert ihn an seine Frau. Sie lebt seit ein paar Wochen mit den beiden kleinsten Kindern in Trier. Und weil auch der Papa mit den Söhnen von einem Zuhause in Deutschland träumt, üben sie schon fleißig Deutsch.
Nesar liebt und lebt die Oinofyta-Idee: Vorbild sein, Verantwortung übernehmen im Camp und für seine Söhne. Wenn da bloß nicht die Angst wäre, die ihn immer quält, wenn er zur Ruhe kommt: „Ich habe Angst, dass sie meine Frau zurück nach Griechenland schicken. Nach Afghanistan können wir nicht zurück…das ist unmöglich. Und Angst um meine Familie und Freunde dort.“
Autorin: Ellen Trapp, ARD Athen
Stand: 13.07.2019 23:26 Uhr
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