Mo., 19.11.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Themse-Hafen hofft auf Brexit
Kommt es nun zum Brexit Deal oder nicht? Alles ist offen, nur eines ist sicher: Der Brexit stürzt Großbritannien, zumindest das politische, ins Chaos. Hanni Hüsch (ARD-Studio London) hat Menschen in Tilbury (Essex) getroffen, die ihre Hoffnungen auf den Brexit setzen.
Einst war der Themse-Hafen der Stolz der Stadt, etwa 40 Kilometer flussabwärts von London. Längst hat er als Handelsknotenpunkt ausgedient. Die ganze Stadt dümpelt vor sich hin. Hier haben über 70 Prozent der Menschen für den Brexit gestimmt. Sie hoffen, dass der Brexit kommt, wollen den Hafen ausbaggern, damit er wieder Hauptumschlagsplatz wird.
"Man hat uns vergessen"
Will Hill kennt seine Stadt, weil er schon so lange in Tilbury lebt. Er mag sie nicht mehr. Die verriegelten Fenster. Die Kids, die schon am Mittag trinken, herumlungern. Will hat in den Docks gearbeitet, gutes Geld gemacht im Hafen. Jetzt hat er viel Zeit, nachzudenken. Auch über die geschlossene Polizeistation. Sparprogramm. Überall. "Die alten Leute fürchten sich, weißt du, was das heißt? Sie gehen abends nicht mehr raus. Und keiner hilft. Man hat uns vergessen. Das ist das Ende der Welt hier". Aber bis London sind es nur 20 Meilen. "Genau."
An guten Tagen guckt man sogar rüber zu den Glitzerpalästen der Londoner City. Hier wird die Politik gemacht. Und das Geld. Tilbury – die kleine Hafenstadt an der Themse, erreicht es nicht. Zu viele Billiglohnjobs. Und der Hafenbetrieb automatisiert. Und zu viele Fremde gäbe es jetzt, sagen die Ureinwohner. Auch darum haben hier so viele für den Brexit gestimmt. Und wollen ihn noch immer. Auch Charlie Lawrence. Nicht, dass er sich mit dem leidigen Thema noch beschäftigen möchte, all die Winkelzüge der letzten Wochen im nahen fernen London – man kann es nicht mehr verstehen. Er hat anderes zu tun. Seine Jungs sind sein Stolz. Die Rennpferde des kleinen Mannes. So viel Verunsicherung. In einem aber ist er ganz klar. "Ich will mein Land zurück."
Will und Charlie haben aufgehört Politikern zu trauen. In all ihren Worten schwingt die Sehnsucht nach gestern mit. Nach dem alten England. Sie setzen so viel Hoffnung in den Brexit, der ihr Tilbury wohlhabender und wieder weißer machen soll. "Er und ich, wir wissen noch wie es vor der EU war. Wir hatten gute Lebensbedingungen. Aber jetzt gehört uns nichts mehr", so Charlie Lawrence. Es wäre zu einfach sie als fremdenfeindlich abzustempeln. Sie wollen nur raus aus dem Mustopf der Vernachlässigung. "Am Anfang wird es hart sein. Und nicht laufen", meint Charlie. "Aber das stört mich nicht. Es ist ja auch jetzt hart. Aber meine Enkel werden profitieren. Ohne jeden Zweifel." Es gibt Pläne für Tilbury. Für den Hafen. Er soll ausgebaut werden. Hier am Rande der Marsch. Londons internationaler Handelsminister stellte neulich beim Besuch eine blühende Zukunft in Aussicht. Wenn das Land nach dem Brexit endlich seine eigenen Wege gehen kann. Aber der jetzt verabredete Ausstiegsdeal bremst zwar nicht den Ausbau, aber erst einmal die Möglichkeiten für eigene Handelsverträge.
Hoffnung für den Hafen
Rob Gledhill kanns nicht abwarten. Er ist der Gemeinderatspräsident. Vom Brexit zutiefst überzeugt. Und ohne Angst vor dem no-deal-Szenario, dem ungeordneten Ausstieg mit all seinen Turbulenzen. Wirtschaftlich und politisch. Schon heute kommt ein Teil der Fracht aus Asien und Afrika. "Wir werden Brexit-Gewinner sein. Schon jetzt schlägt dieser Hafen 40 Prozent seiner Waren aus nicht-europäischen Ländern um. Wir sind bestens ausgestattet. Vor allem nach der Erweiterung. Wir haben die Einrichtungen. Wir werden einfach Gewinner sein."
Gewinnen. Stärker werden. Für viele junge Leute ist der St Marys Boxingclub die letzte Bastion der Hoffnung. Es gibt sonst keine Jugendeinrichtungen, keine Pubs mehr in Tilbury. Vor allem gibt es keine staatlichen Gelder, um die Kids von der Straße zu halten. Tony Rost hat zwei Jungs, die hier boxen. Das lehre sie Disziplin. Genau das vermisst er an Premierministerin May." Jetzt hören wir, sie will, dass wir in der Zollunion bleiben, wir können keine eigenen Handelsdeals mit der Welt machen. Sie haben uns die Wahl gegeben, aber jetzt machen sie, was sie wollen. Viele Leute in England sind sehr empört."
Die da oben, wir da unten – immer wieder begegnen wir diesem Gefühl. Von Ohnmacht. "Die sind finanziell sicher, schicken ihre Kinder auf Privatschulen", klagt Craig Elliot. "Und wir einfachen Leute? Sie spielen mit unserem Leben. Für sie ist das ein Spiel. Sie gehen ins Parlament, debattieren – aber das hier ist das normale Leben." Das normale Leben. Mit seinen traurigen Fakten. Vor den Toren Londons. Zu wenig Wohnraum. Zu ungesundes Essen. Zu wenig Gemeinschaft. Im Schnitt leben sie hier sieben Jahre kürzer als in den reicheren Teilen des Landes. Charlie zieht es oft an den Fluss, An die Themse. Lebensader für den Dockarbeiter. Hier hat er die Asche seines Vaters ausgestreut. "Ich hoffe, es kommt Geld zurück in diese Stadt", meint Will Hill. "Und sie wird wieder die Stadt, die sie mal war. Eine Stadt für Familien. Aber ich kann nicht in die Kristallkugel gucken. Nur hoffen und wünschen." Der Brexit, das große Versprechen – es muss viel passieren, um die Menschen in Tilbury nicht schrecklich zu enttäuschen.
Stand: 30.08.2019 01:29 Uhr
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