So., 06.08.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Millionäre, die mehr Steuern zahlen wollen
Normale Bürger fürchten sich vor Steuererhöhungen, Guy Singh-Watson aber fordert sie sogar. Er ist Unternehmer, sein Landwirtschaftsbetrieb macht jährlich Umsätze von 100 Millionen Pfund. Davon will er mehr für das Allgemeinwohl abgeben. Zusammen mit einer Gruppe von 40 britischen Millionären fordert er von der britischen Regierung, die Einkommensteuer auf Kapitalvermögen zu erweitern, Steuerschlupflöcher zu schließen und den Freibetrag bei Erbschaften abzuschaffen. Insgesamt, so Singh-Watson, könnte das mehr als 50 Milliarden Pfund in die Staatskassen spülen. Die braucht der Staat eigentlich dringend, denn Brexit und Pandemie haben vor allem die armen Teile der Bevölkerung noch ärmer gemacht. Sie brauchen immer mehr Unterstützung aus Steuergeldern.
Die Schere zwischen Reich und Arm
Es gibt kein Land in Westeuropa, in dem die Schere zwischen Reich und Arm derart weit auseinanderklafft wie in Großbritannien, selbst im idyllischen Devon an der Grenze zu Cornwall ist das so. Guy Singh-Watson gehört zu den oberen Zehntausend und will das ändern. Auf der Farm seiner Eltern experimentierte er mit Bio-Anbau von Gemüse, nach einer kurzen Karriere als Unternehmensberater in London und New York.
Singh Watson zog es zurück, weil er sah, dass Geld allein nicht glücklich macht. Und verdiente genau damit mehr, als er je gedacht hätte. Riverford Organics ist heute eine der größten Bio-Farmen in Großbritannien, mit über 1.000 Beschäftigten. Ein Riesen-Unternehmen, das Singh Watson im Laufe der letzten Jahre für einen geringen Preis zu 100% an seine Mitarbeiter überschrieben hat. Er selbst ist hier jetzt nur noch der Mentor: "Ich wollte immer ein Unternehmen haben, um die Welt zu formen und zu verändern. In eine Welt, die nicht von Ungleichheit und Gier bestimmt ist."
Ein Brief an den Premierminister
Die zunehmende Armut um ihn herum macht ihn wütend, die jetzige Regierung tue nichts, um den Menschen zu helfen, die sich immer hoffnungsloser in Inflation und steigende Zinsen verstrickten. Er selbst würde gerne deutlich mehr Steuern zahlen, um das zu ändern. In seinem Büro zeigt er uns deshalb einen offenen Brief, den er, gemeinsam mit 40 anderen Millionären, an den britischen Premier Rishi Sunak geschrieben hat. Wenn man bei Multimillionären nur 1% Steuern erheben würde, schreiben sie, wäre das ein jährlicher Gewinn von umgerechnet bis zu ca. 60 Milliarden Euro. "Wir haben Sunak sogar eingeladen, bei unserem Verein mitzumachen, er ist ja selber Multi-Millionär, aber er war nicht interessiert."
Denn der britische Premier und seine Partei sind strikt gegen mehr Steuern im Allgemeinen, und aber ganz besonders gegen jede Art von Vermögenssteuer: Eine Position die Sunak schon als Finanzminister vertrat: "Ich glaube nicht, dass jetzt die Zeit für eine solche Steuer ist, dafür gibt es ganz generell keinen richtigen Zeitpunkt." Sunaks Position habe aber nichts damit zu tun, dass die Tories nur eine Partei der Reichen seien, erklärt uns einer seiner Abgeordneten: "Geld ist mobil heutzutage", sagt Janil Rayawardena, "mit den falschen Signalen verlassen die Millionäre das Land. Wir wollen das Gegenteil. Dass sie hier investieren, denn nur so können wir neue Arbeitsplätze garantieren."
Guy Singh-Watson auf seiner Farm hält dieses Argument für blanken Unsinn: "Das ist so offensichtlich nicht wahr. Guck Dir doch einfach an, was in den letzten zehn Jahren hier passiert ist. Die Reichen sind immer reicher und die Armen immer ärmer geworden. Das Geld fließt immer nur nach oben. Und es gibt einfach überhaupt keine Fakten, die etwas anderes belegen."
Immer mehr Lebensmittelspenden
Tatsächlich sind mittlerweile mehr als zwei Millionen Briten von Foodbanks abhängig. Aus diesem Lager allein in der Nähe von Watsons Farm wurden in den letzten acht Monaten mehr als eine Million Mahlzeiten verteilt. Und es sind immer mehr ganz normale Familien, die Hilfe brauchen, um sich und ihre Kinder ernähren zu können. Ausgeliefert wird so unauffällig wie möglich an Menschen, die von der Stadt als hilfsbedürftig benannt werden. Wie Leo und seine Partnerin Mas. Mas verlor ihren Job nach einer OP, danach wurde es eng für sie und ihre vier Kinder. Essen gab es, bevor sie die Foodbank fanden, oft nur noch einmal am Tag. "Und so geht es nicht nur uns hier, so viele Freunde haben dieselben Probleme, mein Bruder hat auch seinen Job verloren, jetzt musste er sein Haus verkaufen, weil die Kreditzinsen so gestiegen sind, jetzt hat er hohe Schulden, und ja auch bei mir, trotz der Hilfe hier jetzt, das ist immer noch hart. Weil, heute geht es mir gut, weil dieser Monat ist ok, weil ich niemand mehr anbetteln muss, aber was ist im nächsten Monat? Das tut weh, das ist unwürdig…"
Fürs Erste aber versucht er, sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht werde es irgendwann auch wieder besser sagt er uns zum Schluss, aber viel Hoffnung darauf haben die, die sich auskennen, wie Singh-Watson derzeit nicht. Die Regierung spiegele den Leuten einfach weiter eine heile Welt vor, die es so schon lange nicht mehr gebe. Und das zersetze auf Dauer die Grundlage der britischen Demokratie: "Das ist ernsthaft gefährlich was hier passiert, so, dass ich mir wirklich Sorgen mache, wie lange die Gesellschaft das hier noch aushalten kann. Und so etwas führt am Ende immer zu Gewalt und Revolution. Was wirklich niemand will, aber ich spüre, wie das näherkommt jetzt." Ideen, wie man die derzeitige Misere angehen kann, gebe es zuhauf, sagt er, aber was nützt das, solange der politische Wille dazu fehlt.
Autorin: Annette Dittert, ARD-Studio London
Stand: 06.08.2023 20:56 Uhr
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