So., 11.04.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Indien/Bangladesch: Impfstoff für die ganze Welt
"Wenn die Konzerne damals im April oder Mai 2020 ihr Wissen geteilt hätten, wären wir jetzt Monate weiter – stattdessen haben wir zu wenig Impfstoff", das sagt Brook Baker, Berater der WHO. Und tatsächlich kommen schon jetzt die meisten Arzneimittel, zum Beispiel Antibiotika, aus Fabriken auf dem Subkontinent. Und selbstbewusst sind die Hersteller dort, sie haben das Know-how, auch die neuen mRNA-Impfstoffe herzustellen. Was es braucht, sind Lizenzierung und Wissenstransfer – der läuft aber nur langsam an. Und damit eine vertane Chance, die Welt schneller mit den Corona-Vakzinen zu versorgen.
Bangladesch entwickelt eigenen Impfstoff
"Akzeptiert nicht den Lockdown!” Die wütende Menge in der Hauptstadt von Bangladesch protestiert gegen die Ausgangssperre. Die gilt seit Montag. Das Land kämpft gegen eine neue Covid-Welle. Das Virus breitet sich rasend schnell aus. Auch in Bangladesch gibt es zu wenig Impfstoff. Die Molekularbiologin Naznin Sultana will das ändern. Sie leitet mit Kalon Nag die Forschungsgruppe von Global Biotech in Dhaka. Die Firma ist ein von der WHO anerkanntes Forschungsunternehmen. Trotz dieser Qualifikation hat kein westlicher Pharmakonzern Zusammenarbeit angeboten. Das Team entwickelt jetzt seinen eigenen Covid-Impfstoff. "Wir haben schon mehrere Biopharmazeutika und Biomarker entwickelt, die auf verschiedene Krankheiten abzielen", erklärt Kalon Nag, Geschäftsführer von Globe Biotech. "Sechs unserer Entwicklungen befinden sich im Zulassungsverfahren."
Asien war für die westliche Welt bisher lediglich eine Art verlängerte Werkbank. Denn Bangladesch und auch Indien haben international ausgebildete Wissenschaftler und moderne Produktionskapazitäten. Naznin Sultana hat in Japan, Kanada, Großbritannien und den USA studiert und geforscht. Ihr Team arbeitet hochprofessionell. Und das hätten die großen Pharmakonzerne wie Pfizer oder Moderna nutzen können. "Hätten sie ihr technologisches Wissen schnell geteilt, so würden wir jetzt Produktionskapazitäten in Indien haben und auch eine in Bangladesch", sagt Brook K. Baker, Jurist und Berater der WHO. "Und es gibt noch mehr Standorte, die genutzt werden könnten." Der Jurist berät die Weltgesundheitsorganisation. Gemeinsam mit ihr setzt er sich für einen Know-how-Pool ein. In den sollten die Pharma-Unternehmen ihr Wissen einspeisen, um es zu teilen. Das Ziel: schneller Covid-Impfstoffe herstellen. Kein Pharmakonzern hat bisher Interesse gezeigt. "Ich denke, die meistens Unternehmen wollen die Kontrolle über ihre Technologie behalten. Sie häufen Vermögen und hohe Gewinne an, weil sie die Rechte am geistigen Eigentum, an Patentrechten besitzen, Geschäftsgeheimnisse eben. Die verteidigen sie wie Kronjuwelen. Das alles ist ein extrem wichtiger Wert für ihre sofortigen und künftigen Gewinne."
Impfstoffhersteller zur Zusammenarbeit zwingen
Ähnlich sieht es Achal Prabhala, der seit Jahren vom indischen Bengalore aus für den besseren Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen für Schwellen- und Entwicklungsländer kämpft. "Es hat sich dabei gezeigt, dass man mit ein paar unterstützenden Investitionen durch Staaten und Organisationen in einem Zeitraum von vier bis sechs Monaten die Produktion hochfahren kann. Impfstoffe mit den neuesten Technologien ließen sich – wenn auch nicht allein – aber in vielen Ländern der Welt herstellen."
Die Lösung seien Lizenzen. Dafür müssten Patentrechte nicht einmal aufgegeben werden. Indiens Pharmazieunternehmen könnten Impf-Dosen für die Welt produzieren. Ein Weg, den bisher nur AstraZeneca gegangen ist. Die Firma lässt im Auftrag der WHO vom indischen Serum Institute Covid-Impfstoff für 190 Schwellen- und Entwicklungsländer produzieren – auch für Indien selbst. Die notwendige Menge ist so enorm, dass mit der neuen Pandemie-Welle jetzt auch in Indien dieser Impfstoff knapp wird. "Was sofort getan werden muss, ist entweder eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte oder eine Vergabe von Lizenzen darauf", fordert Achal Prabhala, Aktivist und Ökonom. "Die Impfstoffhersteller müssen zur Zusammenarbeit gezwungen werden, um ihre Technologien mit anderen Herstellern auf der Welt zu teilen, besonders auf den Märkten, die sie nicht bedienen, damit Impfstoffe so schnell wie möglich hergestellt werden können."
Nur gemeinsam lässt sich die Pandemie bekämpfen
Hätten andere Impfstoff-Entwickler Lizenzen vergeben, sähe die Lage vielleicht anders aus, so die These des Inders. Ein Beispiel: Biontech/Pfizer. Die Firma produziert derzeit nur in den USA und Europa, mit den bekannten Lieferengpässen. Sie versichert aber, man versuche alles, um den globalen Bedarf zu decken. "Zurzeit diskutieren wir nicht über eine zusätzliche Produktionsstätte außerhalb dieser etablierten Lieferlinien für den Impfstoff" sagt Andrew Widger, zuständig für Global Media Relations bei Pfizer. "Sobald die Phase der Pandemieversorgung vorbei ist, und wir in eine Phase der regulären Versorgung eintreten, wird Pfizer sicherlich alle verfügbaren zusätzlichen Möglichkeiten evaluieren.”
Wohl zu spät, um schnell die globale Impfstoff-Versorgung zu verbessern, so Naznin Sultana. Für sie ist klar, es muss sich etwas ändern. Ihr Team entwickelt einen mRNA-Impfstoff. Er basiert auf einem ähnlichen Prinzip wie der von Biontech in Deutschland. "Wir müssen die Entdeckung und Entwicklung teilen, mit der Wissenschaftsgemeinde und anderen Pharmaunternehmen." Denn nur gemeinsam ließe sich die globale Pandemie bewältigen. Das Team arbeitet an dem ersten eigenen Impfstoff von Bangladesch überhaupt. Er soll auch gegen neue Covid-Varianten eingesetzt werden. Die Pandemie sei noch lange nicht vorbei, so heißt es hier. Und auf die nächste sollten wir besser vorbereitet sein.
Autorin: Sibylle Licht, ARD-Studio Neu Delhi
Stand: 12.04.2021 09:25 Uhr
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