Mo., 21.09.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Indien: Kinderarbeit – Fußbälle nähen statt Schule
Sie ist voll eingespannt: Sofia ist elf und lebt in Sisola. Gemeinsam mit ihren Geschwistern näht sie Fußbälle. "Ich stehe jeden morgen früh auf und fange an zu nähen. Ich schaffe zwei Bälle am Tag. Dafür bekomme ich zwanzig Rupien." Umgerechnet dreißig Cent. Soviel bekommt Sofia vom Auftraggeber, der die Bälle dann weitervertreibt an große Firmen.
"Ich kriege das Material und flicke es zusammen. Manchmal verletze ich dabei meine Finger. Das tut echt weh." Aber das Geld wird dringend gebraucht. Sofia hat zehn Geschwister. Ihr Vater Mohammed Shahid hat keinen festen Job und findet nichts daran, seine Kinder einzuspannen. Schließlich ist Kinderarbeit nur gesetzlich verboten, wenn sie eindeutig gesundheitsschädlich ist. "Wenn meine Kinder nicht Bälle nähen würden, könnten wir uns das Haus nicht leisten. Die Regierung tut nichts für arme Leute wie mich. Mir bleibt keine Alternative, als unsere Kinder mithelfen zu lassen." sagt Mohammed Shahid.
Widerstand gegen Unterricht für Mädchen
Schuften ein Leben lang, ohne einen festen und sicheren Job. Das Schicksal droht auch seinen Kindern, denn zur Schule kann er sie nicht schicken. "Jeder Vater ist natürlich stolz, wenn eines seiner Kinder Lehrer oder Arzt wird. Aber ich muss meine Familie durchbringen. Ich kann mir solche Träumereien nicht leisten."
Am Mittag darf Sofia zwei Stunden Pause machen. Und wie einige andere Kinder aus der Nachbarschaft nutzt sie die Zeit, um dann doch etwas zu lernen, Lesen, Schreiben, einfaches Rechnen. Die Lehrerin heißt Beena, sie musste auch als Kind nähen und ist erst die zweite Frau aus Sisola, die studiert hat. Nun gibt sie, gesponsort von einem internationalen Kinderhilfswerk, Privatunterricht für arme Kinder wie Sofia. Anerkennung bringt ihr das keine – im Gegenteil. "Die Kinder lieben mich," erzählt sie uns. "Aber es gibt viel Widerstand aus dem Dorf gegen meinen Unterricht. Es wird schlecht über mich geredet. Die meisten Menschen hier sind Muslime, und viele finden, dass Bildung nichts für Mädchen ist. Aber ich gebe nicht auf."
Ein Schlupfloch im Verbot bleibt
Dabei besteht in Indien Schulpflicht für Kinder unter vierzehn. Nur wird sie nicht durchgesetzt. Dass wir die Kinderarbeit filmen, stört die Erwachsenen nicht. Offiziell gehen in Indien vier Millionen schulpflichtige Mädchen und Jungen einer regelmäßigen Arbeit nach, doch Menschenrechtsexperten schätzen: es sind mehr als zwanzig Millionen.
Sher Khan ist Kinderschützer und kämpft seit Jahren für ein Gesetz gegen Kinderarbeit. Demnächst soll es tatsächlich verabschiedet werden. Aber mit einer fatalen Öffnungsklausel. "Die Regierung will Kinderarbeit in Familienbetrieben nach wie vor erlauben. Aber die meiste Arbeit findet ja bereits jetzt in Familien statt. Das wird dann so bleiben – mit staatlicher Genehmigung. Ich fürchte, die Kinderarbeit wird dann noch zunehmen."
Sher Khan wartet nicht auf Gesetze, er handelt. Als er von Sofia erfährt, besucht er ihren Vater. "Schick deine Kinder zur Schule, das ist deine gesetzliche Pflicht." Der Vater scheint überrascht: "Wirklich?" "Klar. Es gibt eine Schulpflicht." erwidert Kinderschützer Sher Khan. "Ja, wenn das so ist," sagt der Vater, "dann muss sie wohl zur Schule gehen."
Stolz auf Schulbücher
Und tatsächlich, er hält Wort: ein paar Wochen später – Sofias erster richtiger Schultag. Sie hat eine Schuluniform bekommen, jetzt holt sie ihre Bücher ab – vom Schuldirektor Gaurav Singh persönlich, der noch eine Bitte hat: "Sprich mit deinen Freundinnen und sag ihnen, dass sie auch zur Schule kommen sollen. Wenn ihr weiter nur näht, wird aus euch nichts. Dabei seid ihr Kinder Indiens Zukunft."
Beim Einschulungstest ist aufgefallen, dass Sofia ungewöhnlich intelligent ist. Sie steigt gleich in der fünften Klasse ein – und das ist nicht die einzige Herausforderung. Sie wird am Nachmittag wieder arbeiten müssen, dann, wenn die anderen Kinder spielen oder Hausaufgaben machen.
Doch bei Sofia überwiegt die Freude. Wieder daheim zeigt sie stolz ihre Schulbücher und erzählt ihrer Mutter, wie es in der Schule war. Als erste aus der Familie hat sie in einem echten Klassenzimmer gesessen. "Und, was gab's zu essen?" fragt Sofias Mutter. "Reis und Gemüse, das war richtig lecker" sagt Sofia. Auch der Vater ist gerührt. "Ich bin echt glücklich, dass sie zur Schule geht. Und Sofias jüngere Geschwister werde ich jetzt auch zur Schule schicken."
Die Arbeit bleibt
Am liebsten würde Sofia weiter in den neuen Büchern blättern. Oder draußen herumtollen. Aber auf sie wartet jetzt die Arbeit. Das Pensum ist das gleiche wie vorher. "Ich habe schon heute Morgen vor der Schule genäht. Und jetzt esse ich schnell was und nähe dann weiter. Zwei Bälle muss ich schaffen."
Bis spät in den Abend näht Sofia Bälle, die im Handel hundert Mal so viel kosten, wie sie verdient. Wenn sie sich in die Finger sticht, verwischt sie die Spuren sorgfältig. Wer will schon Kinderblut an Fußbällen.
Autor: Markus Spieker, ARD Neu Delhi
Stand: 09.07.2019 10:21 Uhr
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