So., 30.01.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Indien: Kinderarbeit für deutsche Kosmetikprodukte
Mica heißt das Mineral, das vielen Lippenstiften, Seifen und Pudern das Glitzern verleiht. Im Norden Indiens wird es vor allem von Frauen und Kindern abgebaut. Eigentlich ist Kinderarbeit illegal, aber niemand tut etwas dagegen. Wenn der Rohstoff Deutschland erreicht, ist praktisch nicht mehr nachzuvollziehen, wo das Mica gewonnen wurde und von wem. Offiziell verkaufen die Zwischenhändler nämlich nur ethisch einwandfreie Ware.
Der Weltspiegel-Podcast beschäftigt sich auch mit dem Thema "Kinderarbeit". Zu finden in der ARD Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt.
Ein hoher Preis für ein wenig Glanz
Es ist illegale Kinderarbeit, die in diesen Höhlen in Indien stattfindet. "Ich habe Angst hier", sagt der 10jährige Neeraj. Die Kinder suchen nach Mica - bis zu acht Stunden täglich. "Ich will hier nicht sein, aber sonst verhungern wir", meint die 10jährige Tara Kumari. Das Mineral findet sich auch in vielen meiner Alltagsprodukte wieder. Das lukrative Geschäft mit Mica − ich will wissen, was sich wirklich dahinter verbirgt. Mica − der hohe Preis für ein wenig Glanz…
Ich bin im nordindischen Bundesstaat Jharkhand unterwegs. Mehr als 50.000 Menschen sollen hier von Mica leben. Etwa die Hälfte der weltweiten Mica-Exporte kommen aus genau dieser Region − das meiste davon aus illegalen Minen. "Wir erwarten einen nicht ganz unproblematischen Dreh. Die wenigsten dort haben Lust mit uns zu reden. Wir werden dort keineswegs mit offenen Armen empfangen. Deswegen werden wir probieren, ganz früh am Morgen schon zu den Minen zu fahren, weil dann noch nicht so viele Menschen wissen, dass wir in der Stadt sind."
1,50 Euro für 10 Kilo Mica am Tag
Der nächste Morgen. Schon früh brechen wir in Richtung der Mica-Minen auf. Nur die ersten Kilometer können wir mit dem Auto zurücklegen. Dann steigen wir auf Motorräder um. Weil die Straßen schlechter werden, aber vor allem damit unser Team möglichst schnell aus einer brenzligen Situation entkommen könnte. "Also wir fahren hier wirklich mehrere Kilometer ins Nichts. Es sind quasi gar keine Straßen mehr. Man sieht schon den Dreck glitzern. Das ist das Mica, das man sieht." Nach einer Weile begegnen wir den ersten Familien, die sich auf den Weg zu ihrer Arbeit in den Minen machen. Dort angekommen sehe ich zig Löcher, die in die lose Sand-Erde gegraben wurden. Offiziell wurden die Minen in den 90er Jahren geschlossen. Teils aus Sicherheitsgründen, teils weil die Fläche zum geschützten Waldgebiet erklärt wurde.
Heutzutage sind es vor allem Frauen und Kinder, die dort nach Mica suchen. So wie Neeraj. Zehn Jahre ist er alt. Erst kürzlich musste er mit ansehen, wie eine Frau in den Minen starb, weil die Erde über ihr einstürzte und sie darunter begrub. "Ich muss oft hierher, weil wir arm sind." "Wieviel Geld bringt das?" "10 bis 20 Cent" "Warum müsst ihr es verkaufen?" "Naja, sonst haben wir nichts zu essen." Seine ganze Familie lebt vom Mica. Ein Mineral, das vor allem in Gesteinen zu finden ist. Und das aus mehreren Schichten besteht, die eine geringe Leitfähigkeit aufweisen. Gemeinsam mit seiner Mutter Babita und zwei weiteren Geschwistern sammeln sie davon etwa 10 Kilo pro Tag − der Lohn: gerade einmal etwa 1 Euro 50. "Falls wir mehr verdienen würden, würden wir natürlich die Kinder in die Schule schicken", sagt Babita Devi. "Wir können nicht lesen oder schreiben aber unsere Kinder sollen das natürlich lernen. Weil wir so arm sind, geht das aber nicht. Falls sie nicht helfen, haben wir nichts zu essen."
Der Hunger treibt die Menschen zu den illegalen Minen
Es ist der Hunger, der die meisten Familien hertreibt. Und dazu zwingt sich täglich in den illegalen Minen in Lebensgefahr zu begeben. Doch das Geschäft mit Mica boomt − und weil wir genau dieses Geschäft beschädigen könnten, sind wir alles andere als gern gesehene Gäste. "Wir mussten jetzt doch schnell von den Mica-Minen verschwinden mit den Motorrädern, weil mehrere Menschen mitbekommen haben, dass wir dort sind und das nicht so gerne wollten. Jetzt sitzen wir schon wieder im Auto zurück zum Hotel." Doch noch im Auto erreicht mich eine Nachricht. Ein Mica-Händler ist bereit sich mit mir zu treffen. Allerdings nur ganz weit außerhalb der Stadt.
Er bezieht den Rohstoff aus solchen Minen, wie die, in denen wir gedreht haben. Die Maske beim Interview trägt er vor allem, weil er nicht erkannt werden will. Ich will wissen, wie der illegale Mica-Handel funktioniert. "Wir kaufen das Mica von den Dorfbewohnern, die es in den Minen sammeln", erzählt der Mica-Händler Krishna Kumar. "Wir zahlen zwischen fünf bis zehn Cent pro Kilo. Es kommt auf die Qualität des Micas an. Dann verkaufen wir es für 25 bis 30 Cent pro Kilo weiter." "Wir waren an den Minen und haben dort Kinder gesehen, die den ganzen Tag nach Mica suchen. Was halten Sie davon?" "Wir kaufen kein Mica von Kindern. Wir wollen auch nicht, dass sie in den Minen arbeiten. Wir kaufen nur von Erwachsenen. Falls dort wirklich Kinder arbeiten sollten, weiß ich nichts davon." Neben der Kamera erzählt er mir etwas anderes. Natürlich sei die Kinderarbeit ein Problem. Aber er habe Angst vor denjenigen, die das ganz große Geld machen, das Mica von Koderma aus in die Welt exportieren.
Es gibt Alternativen
Ich schaue nach, in welchen meiner Produkte Mica enthalten ist. Erst nach langer Recherche finde ich heraus, dass es in meinem Toaster als Isoliermaterial zu finden ist, im glänzenden Lack meines Wasserkochers zum Einsatz kommt und auch in zahlreichen meiner Hygiene-Artikel steckt. "Bei ganz vielen Produkten sehe ich auf den ersten Blick gar nicht, ob Mica drin ist oder nicht. Und selbst bei denen, bei denen es draufsteht, habe ich keine Ahnung, wo es herkommt. Es gibt keine Kennzeichnung, ob es sich um nachhaltig hergestelltes Mica handelt oder nicht. Und das macht es mir als Konsument unglaublich schwer darauf zu achten." Ich schreibe Unternehmen an, die in ihren Produkten auf natürliches Mica setzen. Viele verweisen schriftlich auf ihre Nachhaltigkeitsgrundsätze, persönlich mit mir sprechen will aber keines der 13 Unternehmen, die ich kontaktiert habe.
Deshalb besuche ich ein Kosmetik-Unternehmen, das in puncto Mica seit einigen Jahren einen anderen Ansatz verfolgt. Auf dem Produktionsgelände in Düsseldorf treffe ich eine Einkäuferin der Firma Lush. Sieben Jahre ist es her, dass das Unternehmen die Entscheidung traf, auf natürliches Mica zu verzichten. In über 300 Produkten des Sortiments steckt inzwischen der synthetisch hergestellte Rohstoff. "Und das hier ist das künstliche Mica?" "Genau. Hier haben wir einige verschiedene Varianten von dem synthetischen Mica, das wir einsetzen in unseren Produkten", erklärt Franziska Götz von der Firma Lush. "Angesichts der Risikosituation, die wir hatten, dass wir eben die Intransparenz in Indien hatten, dass wir nicht sicherstellen konnten, dass in unserer Lieferkette keine Kinderarbeit drin war, haben wir uns einfach entschieden, dass es für uns einfacher ist, andere Materialien zu verwenden, den synthetischen Glitzer zu verwenden." "Warum sagt denn dann nicht jedes Unternehmen: na gut, dann nehmen wir eben das künstliche Mica?" "Es gibt durchaus Vorteile von dem synthetischen Mica. Der Ertrag ist höher, es hat eine höhere Reinheit. Aber ein signifikanter Nachteil gegenüber dem natürlichen Mica ist natürlich, dass es teurer ist."
In Indien bekommen die Familien und im speziellen die Kinder wenig von dieser Diskussion mit. Für sie geht es ums reine Überleben. Das Problem: ohne Bildung besteht kaum Hoffnung aus dieser Spirale jemals herauszukommen.
Autor: Oliver Mayer, ARD-Studio Neu-Delhi
Stand: 31.01.2022 09:48 Uhr
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