So., 07.03.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Indien: Sex-Sklavinnen im Namen der Götter
Die Tradition ist sehr alt. Im Süden Indiens werden junge Mädchen in einer religiösen Zeremonie an einen Gott verheiratet. Früher war dies mit hohem gesellschaftlichem Ansehen verbunden, heutzutage ist dies der fast sichere Weg in die Prostitution. Autor Oliver Mayer begleitet eine Devadasi in ihrem Alltag und will dabei herausfinden, was hinter dem System steckt und was es mit den Frauen macht. Inmitten der Armut und des Leids, gibt eine ehrenamtlich geführte Schule Hoffnung. Sie soll zumindest den Kindern der Devadasis ein besseres Leben als das ihrer Mütter ermöglichen.
Mit einem Gott "verheiratet" – der Weg in die Prostitution
Der Rotlichtbezirk von Sangli in Südwestindien. Ein Hotspot für Prostitution. Sexarbeiterinnen haben hier bis zu 60 Kunden. Pro Nacht. Immer noch ist hier in der Region eine alte religiöse Tradition verbreitet: das Devadasi-System. Frauen, die in jungen Jahren an einen Gott verheiratet werden und so zu minderjährigen Sexsklavinnen werden. "Das, was ich mache ist falsch", sagt Shabanam. "Aber was soll ich tun?” Eine der Frauen erklärt sich bereit mit uns über ihre Situation zu sprechen. Wie jeden Morgen malt Shabnam ein Rangoli auf den Boden vor ihrer Hütte. Es soll Wohlstand und Glück in ihr Leben bringen. Ihr Leben, das größtenteils auf diesen sieben Quadratmetern stattfindet – und in dem sie seit der Jugendzeit ihren Körper verkauft. "Wenn ich aus dem System aussteigen wollte, würden wir verhungern. Ich muss also weiter Kunden empfangen. Denn ohne Bildung bekomme ich höchstens einen Job, in dem ich ca. einen Euro pro Tag verdiene. Wie sollen wir denn mit so wenig Geld überleben?”
Ihr Alter weiß sie nicht, um die 30 sei sie wohl. Zwei Töchter hat sie von Männern, die sie nicht kennt. Sapna und Aruna, ihr ganzes Glück. Wann genau Shabnam eine Devadasi, also eine Dienerin Gottes wurde, weiß sie nicht mehr. Offiziell ist das System seit 36 Jahren verboten. Und doch leben in Sangli noch immer etwa 300 Devadasis. Früher genossen Devadasis hohes gesellschaftliches Ansehen, verrichteten vor allem religiöse Aufgaben im Tempel. Heute ist das ganz anders. Es ist meistens der sichere Weg in die Prostitution und ein Leben am Rande der Gesellschaft.”
Wie aussteigen aus dem System?
Das ist das einzige, das noch übrig geblieben ist vom alten System – ein improvisierter Tempel. Der, in dem sie Gott geweiht wurde, ist weit weg. Genau wie ihre Eltern, denen sie noch immer ein Großteil des wenigen Geldes schickt, das sie verdient. Es ist ein frauenverachtendes System, von dem mir ihre Tante erzählt, die ebenfalls eine Devadasi und Tempelpriesterin ist. "Als wir den Dienst Gottes antraten, kamen wir hierher – und landeten sofort in der Prostitution. Wir haben es noch nie gemocht mit den Kunden zu schlafen. Aber zumindest unseren Eltern geht es gut – sie haben etwas zu essen.” Shabnam wirkt in sich gekehrt. Ich frage sie was in ihr vorgeht, wenn sie die Worte ihrer Tante hört. "Ich bin einfach traurig, wenn ich ihr zuhöre. Meine Situation ist die gleiche.”
Ich frage mich, warum Shabnam ihre Familie überhaupt noch unterstützt. Wo sie es doch waren, die sie in diese miserable Situation geführt haben. Hoffnung spendet ihr vor allem der Gedanke, dass es ihre Töchter im Leben einmal besser haben könnten. Es ist Mittagszeit. Shabnam will für die Kinder kochen und mir ihr kleines Zimmer in einer Seitengasse zeigen. Als ich dort hineinkomme, bin ich überrascht, dass ich dort einen Mann antreffe. Es ist ihr Freund Raju. Seit einem Jahr sind die beiden zusammen, damals war er ihr Kunde. Jetzt will er, dass sie mit der Prostitution aufhört. "Sie soll aus dem Devadasi System aussteigen. Ich will, dass sie dort herauskommt. Ich kann doch das Geld verdienen und mich um sie kümmern. Sie kann den Haushalt übernehmen und ich mache dann den Rest. Wenn sie glücklich ist, bin auch glücklich." Während ihr Freund von einem glücklichen Familienleben träumt, schätzt Shabnam die Situation anders ein. "Das ist ja alles gut und schön, dass er will, dass ich mit der Prostitution aufhöre und auch keine Devadasi mehr bin. Aber wer kümmert sich denn dann um meine Mutter und die Zukunft meiner Kinder? Wie viel kann er denn sparen und den Kindern geben? Die 20 Euro pro Monat reichen nicht, wenn ich später meine beiden Töchter verheiraten will."
Ein ganzes Leben als Sexarbeiterin
Hoffnung auf ein besseres Leben gibt vielen hier die vor wenigen Jahren gegründete Schule, die auch Shabnam und ihre Töchter besuchen. Deepak Chavan und Anarkali Kurne haben die Schule ins Leben gerufen. Ehrenamtlich unterrichten sie Kinder und Erwachsene mehrmals pro Woche bringen ihnen lesen und schreiben bei. Ich muss daran denken, wie den Frauen ihre Zukunft von den eigenen Eltern genommen wurde und wünsche mir, dass es wirklich so ist, wie viele hier sagen: dass es den Kindern deutlich besser ergeht. "Die Sexarbeiterinnen haben ihr ganzes Leben hier verbracht", sagt Deepak Chavan. "Das wollen wir für deren Söhne und Töchter ändern. Sie sollen erfolgreich sein um sich dann im Erwachsenenalter auch um ihre Mütter kümmern zu können.”
Genau das will Shabnams Tochter Sapna tun. Und dabei hat sie ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen. "Wenn ich groß bin, will ich einmal Ärztin werden.” Noch aber klaffen Wunsch und Realität weit auseinander. Noch geht hier der Job vieler Frauen in der Dämmerung los, wenn das Rotlichtviertel zum Leben erwacht. Wir bekommen jetzt nochmal die Möglichkeit hier abends zu filmen. Versteckt quasi damit uns die Kunden nicht sehen. Und schauen mal, was wir da so beobachten können. Aus einer kleinen Kammer drehen wir, was nachts passiert. Etwa 5.000 Kunden kommen täglich ins Viertel – ca. 2,50 Euro zahlen sie für den Sex. Und weil dies deutlich mehr ist, als die Frauen in einem anderen Job verdienen könnten, ist ein Ende dieses Systems hier im Südwesten Indiens nicht in Sicht.
Autor: Oliver Mayer, ARD-Studio Neu-Delhi
Stand: 08.03.2021 10:58 Uhr
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