So., 20.11.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Irak: Drogen gegen Armut
In diesem Elendsviertel von Basra holte sich Mohammed jede Woche den Stoff. Ein Gramm Chrystal Meth, um seine Geldnot, Arbeits- und Perspektivlosigkeit für einen Moment zu vergessen. Das Erwachen danach aber war umso härter. "Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Wenn ich daran zurückdenke, möchte ich vor Scham am liebsten sterben", erzählt er.
Es waren sechs Jahre zwischen Exzessen und Abstürzen. Mit Chrystal Meth verlor Mohammed alle Selbstzweifel, gab den Partykönig, stürmte beim Handball nach vorne, fühlte sich unbesiegbar. Die Nebenwirkungen allerdings waren heftig. Ihm fielen büschelweise Haare aus, er verlor drei Zähne, nahm 25 Kilo ab. "Alle, die mich ein paar Wochen nicht gesehen haben, haben mich gefragte: Was ist los mit dir? Warum hast du so viel abgenommen? Was ist mit deinen Augen? Alle, die mich gesehen haben, waren schockiert. Mein Anblick war beängstigend."
Ohne die synthetische Droge war Mohammed hochaggressiv. Auch seinen beiden Kindern gegenüber. Er wollte allein gelassen werden, schmiss sein Studium, schlief tagelang. Als sein ältester Sohn mit ihm spielen wollte, verletzte er ihn mit einem Feuerzeug. "Ich habe ihnen sehr viel Leid zugefügt. Es fällt mir schwer darüber zu reden. Ich habe ihnen so viel Leid zugefügt. Jedes Mal, wenn ich wieder bei Verstand war, habe ich mich gefragt: Warum hast du das gemacht?", gibt Mohammed zu.
Die Klinik ist der letzte Ausweg
Basra. Hotspot der Drogen im Irak. Einst blühende Metropole im Süden des Landes. Reich durch die Milliarden aus dem Ölgeschäft. Doch der Großteil der Erlöse versickert in den Taschen einer korrupten Elite im fernen Bagdad. Das einstige Venedig des Nahen Ostens verfällt. Verseuchtes Trinkwasser. Immer wieder Stromausfälle. Die Infrastruktur verfällt. Fast 40 Prozent aller jungen Menschen sind arbeitslos. Viele müssen sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Ohne jede Perspektive. Der Frust sitzt tief. "Es gibt hier keine Jobs, keine Firmen, keine Rechte. Wir arbeiten von morgens bis abends in solchen Shops, haben Familien, müssen Miete zahlen, verdienen aber nur 15 Euro am Tag", erzählt Sajad Hassan und MOrtada Mohamad sagt: "Ich habe jede Hoffnung aufgegeben. Ich arbeite den ganzen Tag. Heute kann ich meiner Familie noch etwas zu Essen kaufen, morgen vielleicht schon nicht mehr."
Hierher verschlägt es diejenigen, die ihr Heil in Drogen suchten und jetzt am Ende sind. Schwerstabhängige in der einzigen Entzugsklinik des Irak. Hassan trägt freiwillig Fußfesseln, um nicht wegzurennen. Die ersten Tage des Entzugs waren besonders hart für ihn. Viele hier werden ruhiggestellt mit Anti-Depressiva und Schlaftabletten: "Es fühlt sich in den ersten Tagen an, als ob du erstickst. Du willst nur noch raus, zurück zur Familie. Aber nach zwei, drei, maximal fünf Tagen fühlst du dich schon besser.“ Sajjad probierte Chrystal Meth zum ersten Mal mit zehn. Sieben Jahre später ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Jetzt will er Schluss machen mit der Sucht: "Meine Brüder haben mich da reingezogen. Jetzt sind sie im Gefängnis. Beide."
Gerade einmal 25 Plätze bietet die Klinik. Bei weitem nicht genug. Allein in Basra nehmen Tausende junge Menschen Chrystal Meth. Ermittler:innen schätzen, jeder Zehnte ist von der Droge abhängig. Und der Staat schaut weg. "Es ist so einfach, das Zeug zu bekommen. Überall", sagt Hassan.
Die Therapie ist schlicht. Spiele, Sport, Gespräche. Schon nach 15 Tagen müssen sie raus. Platz machen für die nächsten. Die Rückfallgefahr ist deshalb groß. Viele aber haben den Absprung hier geschafft, auch Mohammed. Seit 16 Monaten ist er nun schon clean. Gemeinsam mit anderen Ex-Junkies will er heute Danke sagen. Dafür, dass sich die Ärzt:innen ihrer angenommen haben, statt sie auszugrenzen wie so viele andere im Irak. "Die Gesellschaft empfindet dieses Thema als Tabu. Es braucht Aufklärungskampagnen in Moscheen, in Schulen. Drogen sind so weit verbreitet", erklärt Psychotherapeut Kasem Kheiralaa.
Krieg heizte Drogenkonsum an
Die Straße der Märtyrer in Basra. Sie alle fielen im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Der Krieg markiert auch einen Dammbruch. Viele griffen seinerzeit zu Chrystal Meth, um dem Gegner furchtlos zu begegnen. Die Droge kam über die Grenze aus dem Iran. Sie wird dort massenweise hergestellt. Seither überflutet sie das Land.
Vor allem gläubige Schiiten zogen damals in den Kampf, folgten dem Aufruf ihres Großajatollahs. In den Moscheen sind sie auf die Erfolge gegen den IS bis heute stolz, wissen aber auch um die verheerenden Nebenwirkungen. "Durch den Krieg sind viele Menschen drogenabhängig geworden, der Schmuggel ist aufgeblüht", sagt Imam Abdul Radah. Mühsam kämpft sich Mohammed zurück ins Leben. Jeden Abend stählt er sich beim Sport, tagsüber jobbt er, gibt seinem Leben einen neuen Rhythmus. Er hat es geschafft, wie er zumindest glaubt: "Ich kann mir nicht vorstellen, mit Drogen wieder anzufangen. Aber jeder, der aus der Therapie entlassen wird, wieder mit Geldnot und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat, wird auch schnell wieder rückfällig."
Nein zu Drogen. Der 34-Jährige will standhaft bleiben. Auch wenn das vielen anderen so schwerfällt, in einer Stadt, die jungen Menschen so wenig Grund zur Hoffnung gibt.
Autor: Daniel Hechler /ARD Studio Kairo
Stand: 20.11.2022 19:47 Uhr
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