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Nordirak: Der Vormarsch der Peschmerga

Nordirak: Der Vormarsch der Peschmerga | Bild: SWR

Noch immer ist die Schmach nicht vergessen: Vor mehr als einem Jahr mussten die kurdischen Peschmerga die Stadt Sindschar im Norden des Irak beinahe kampflos räumen. Die Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan waren dem Ansturm der Terrorgruppe "Islamischer Staat" nicht gewachsen.

Tausende Jesiden, die in der Region beheimatet sind, wurden vom "IS" getötet oder verschleppt und versklavt. Jetzt sind die Peschmerga zurückgekehrt und haben mit Hilfe der US-geführten Allianz die Region um Sindschar zurückerobert. ARD-Korrespondent Thomas Aders (Studio Kairo) hat die Peschmerga begleitet.

"Die IS-Milizen sind nur ein, maximal zwei Kilometer von uns entfernt", sagt unser Begleiter. "Sie können uns von dort präzise treffen. Wir müssen sehr vorsichtig sein." Sindschar im Nordirak, nur ein paar Minuten – und man ist in einer Welt des Grauens. Noch bis vor zwei Wochen hatten hier die Mörderbanden des IS gewütet. Ihre Hinterlassenschaft: massenhafter Tod.

Seit Mitte November ist Sindschar befreit

verschiedene Fahrzeuge der Peschmerga
Die kurdischen Peschmerga haben Sindschar vom IS zurückerobert. | Bild: SWR

Das Sindschar-Gebirge. Seit seiner Offensive im August 2014 hatte der sogenannte Islamische Staat mit aller Kraft versucht, den langgestreckten Höhenrücken zu erobern. Vergeblich, die kurdischen Peschmerga hatten sich – nachdem sie zunächst vom IS aus dem Tal vertrieben worden waren – in den Bergen verschanzt und erbitterte Gegenwehr geleistet. So konnten sie Tausende von Menschen beschützen, die in Todesangst hierher geflüchtet waren. Noch immer leben viele von ihnen in Zelten, an eine Rückkehr in ihre Dörfer in der Ebene ist noch lange nicht zu denken.

Direkt unterhalb des Hügels liegt die Stadt Sindschar, die fast anderthalb Jahre lang in den Händen des IS gewesen war. Mit einer großangelegten Offensive, unterstützt durch massive Luftschläge der Anti-Terror-Koalition, hatten die Peschmerga die Stadt am 13. November befreit. General Sihad Barzani, Bruder des Kurdenpräsidenten, ist zufrieden. Auf einer Breite von 90 Kilometern konnten die Extremisten zurückgedrängt werden."Wir alle waren froh, dass wir dieses wichtige Stück Kurdistan befreien konnten. Wir haben es geschafft, in kurzer Zeit, innerhalb einer halben bis einer Stunde, die Straße von Rakka nach Mossul zu erobern." Weil die Peschmerga diese Straße erobert haben, die Hauptstraße 47, haben die Terroristen jetzt ihre direkte Verbindung verloren zwischen ihren Hauptquartieren im irakischen Mosul und Rakka in Syrien.

Die Jesiden haben alles verloren

Soldaten an Raketenwerfer
Bei den Kämpfen wurde ein großer Teil der Stadt zerstört.  | Bild: SWR

Der Preis für diesen strategischen Erfolg: Sindschar liegt in Trümmern. Fast jeder der 500.000 Einwohner gehörte der religiösen Minderheit der Jesiden an, die von den Islamisten als Ungläubige und Götzenanbeter verfolgt werden. Die Jesiden haben alles verloren – ihren Besitz, ihre Häuser und ihre Heimat. "Es gibt keine Krankenhäuser mehr, keine Schulen, keine bewohnbaren Häuser, kein Wasser, keinen Strom", meint Peschmerga-Kommandant Naser Pasha Khalaf. "Mindestens 70 Prozent der Gebäude sind vollkommen zerstört. Eigentlich macht es überhaupt keinen Sinn, Sindschar zu renovieren. Es wäre besser, wenn man die Stadt nebenan ganz neu bauen würde."

Vorsichtig klettern wir über den Schutt. Wir erreichen eines der ehemaligen Hauptquartiere der Milizen, verborgen im Keller eines Einfamilienhauses. Khalil, unser Begleiter, meint wegen der vergleichsweise guten Ausstattung, dass hier mehrere Führungs-Offiziere geschlafen haben, sogenannte Emire. Auf den Betten – Essensreste, Tabletten, mehrere Koranausgaben. Im hinteren Teil liegt der Zugang zu dem kilometerlangen Tunnelsystem, durch das die Islamisten unbemerkt ihren Standort wechseln konnten. Auch dies ein Beweis dafür, wie wichtig dem IS die Stadt Sindschar war. Wir bewegen uns überall mit größter Vorsicht. Überall liegen Kabel, jedes könnte eine Sprengfalle sein, jeder Gegenstand eine Bombe. Wie diese Kamera. "Sehen Sie, dies ist das Kabel, wir wissen nicht, wohin es führt", sagt Peschmerga-Sprecher Khalil Sinjari. Ich denke, das Ding steckt voller TNT."

Die Front liegt jetzt 10 Kilometer südlich

Soldat mit Gewehr hinter Sandsäcken
Die IS-Stellungen sind in Sichtweite. | Bild: SWR

Der IS ist aus Sindschar vertrieben, nun liegt die Front rund zehn Kilometer weiter südlich. In Sichtweite des Peschmerga-Postens: das Dorf Rambusie. Von hier aus feuern die Extremisten mehrmals am Tag mit Scharfschützengewehren, Raketen und Granatwerfern in Richtung Peschmerga. Drei Mal, sagen die Soldaten, sind heute bereits Artilleriegranaten neben ihnen eingeschlagen. Die Peschmerga sind – im Gegensatz zum August 2014, als sie Reißaus nehmen mussten – heute relativ gut gerüstet. Neben ihrer Artillerie können sie auf deutsche Milan-Panzerabwehrraketen zurückgreifen, um die schwer bewaffneten Selbstmordkommandos des IS zu stoppen.

Doch im Nordirak ist deshalb in diesen Tagen niemand euphorisch. Denn nach und nach wird das ganze Ausmaß des Horrors sichtbar, den die Extremisten verbreitet haben. Wir kommen zu einem Swimmingpool, den sie als Massengrab für 78 ältere Frauen aus dem Ort Kotcho benutzt haben. "Dies sind die Überreste eines Rocks, wie sie ältere jesidische Frauen tragen, keine jungen Frauen würden diese Stoffe nehmen", erklärt Peschmerga-Kommandant Naser Pasha Khalaf. Und hier sehen Sie einige der Schädel. Die IS-Milizen haben die älteren Frauen hierher gebracht, um sie zu töten. Sie waren nutzlos für sie, denn sie waren zu alt, um sie als Sexsklavinnen auf dem Markt zu verkaufen." Im Nordirak erzielt der Anti-Terrorkampf die ersten Erfolge – doch mit jeder Stadt, aus der die Extremisten des IS vertrieben werden, kommen jetzt immer neue Grausamkeiten ans Tageslicht.

Stand: 10.07.2019 05:08 Uhr

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