Mo., 26.06.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Irak: Kurden gegen Kurden
Sindschar ist immer noch eine Trümmerwüste. 2015 wurde die Jesiden-Metropole befreit, die Terrorgruppe des sogenannten "Islamischen Staates" aus der Stadt vertrieben. Zwei Jahre danach will kaum einer der ehemaligen Bewohner zurück. Nicht weil sie Angst vor der Rückkehr des IS haben, sondern weil es kein Wasser, kein Strom, keine Infrastruktur gibt. Der versprochene Wiederaufbau fand nicht statt.
Grund ist ein Konflikt, der innerhalb der Kurden immer stärker eskaliert. Ein Konflikt zwischen der kurdischen Regionalregierung und ihren Truppen und PKK-nahen Milizen. Vor kurzem kam es sogar zu bewaffneten Zwischenfällen. Kurden gegen Kurden.
"Die Regierung tut gar nichts“.
Früher war das der Basar der Jesiden-Metropole Sindschar, mit Geschäften und voll Leben. Kamal und seine Frau sind gleich nach der Vertreibung des IS nach Sindschar zurückgekehrt. Das war Ende 2015. Heute sieht Sindschar noch immer so aus: eine Trümmerwüste. Beinahe eine Geisterstadt. „Wenn sie endlich anfangen würden, hier wiederaufzubauen, wenn es endlich wieder Elektrizität gäbe und Wasser, dann würden Leute zurückkommen,“ sagt Kamal Haidar Suleiman. „Aber die Regierung tut gar nichts.“ Der Wiederaufbau kommt einfach nicht voran. Denn die Befreier von einst sind sich heute spinnefeind.
Kamal war Soldat der irakischen Armee. Seine Pension und die Ziegen im Garten des Nachbarn, der längst in Deutschland lebt, ernähren Kamal, seine Frau, die Kinder und die Enkel. Auch Kamal hat sich 2014 in die Berge geflüchtet. 13 Mitglieder seiner Familie verschwanden damals, wurden getötet oder verschleppt – wie diese Kinder. Sie flohen vor dem IS, aber auch vor einstigen Nachbarn, die mit dem IS gemeinsame Sache machten. „Wir trauen keinem mehr,“ sagt Kamals Frau Nura Sido Murad. „Wir können nicht mehr mit denen zusammenleben. Es gab ein paar gute muslimische Nachbarn, aber es gab auch andere, die dem IS gegen uns Jesiden im Sindschar geholfen haben.“
Geholfen hat nur die PKK
Gerettet hätten sie damals, als sie wehrlos auf dem Berg festsaßen, nur die Guerillas von der PKK, sagt Kamal. Später erst kamen die Peschmerga, die Armee der kurdischen Regionalregierung, den Jesiden zu Hilfe. „Die PKK hat uns vor dem Untergang bewahrt, warum sollten die jetzt abziehen müssen?", fragt sich Kamal Haidar Suleiman. "Die haben uns aus den Händen des IS errettet, haben die Leute auf ihren Schultern über den Berg getragen. Sonst hat uns niemand geholfen, keiner war da. Nur die PKK.“
Frühsport im Morgengrauen, vier Uhr dreißig. Die PKK selbst hat im Sindschar nur wenige Kämpfer. Aber sie hat längst eine jesidische Schwester-Organisation gegründet: die "Je-Be-Sche", die jesidischen Widerstandseinheiten. Die PKK hat seit Jahrzehnten ein Rückzugsgebiet in der irakischen Kurdenregion, in den Kandil-Bergen, etwa 100 km südlich von der Türkei. Die Türkei hat beste Beziehungen zur kurdischen Regionalregierung in Erbil. Und beide wollen jetzt verhindern, dass die PKK mit den ihr nahestehenden Widerstands-Einheiten neben dem Stützpunkt im Kandil noch eine zweite Bastion im Sindschar aufbaut. Und so bleibt es für die 18jährige Shilan nicht ohne Folgen, dass sie im Sindschar das Konterfei von Kurdenführer Öcalan auf dem Ärmel trägt. „Die Jesidischen Widerstandseinheiten schützen die Menschen dieser Region, sagt Shilan von den Jesidischen Widerstandseinheiten YBS." Aber ich kann keine Verwandten im Kurdengebiet besuchen, ohne zu riskieren, festgenommen zu werden. Die Regierung in Erbil übt großen Druck auf uns aus.“
Kurden kämpfen gegen Kurden
Diese Geiselbefreiung ist nur eine Übung, aber die PKK-nahen Bürgerwehren haben auch im richtigen Leben bewiesen, dass sie erfolgreich sind im Kampf gegen die Terroristen vom IS. Aus den irakischen Kurdengebieten ist der IS mittlerweile fast vertrieben. Doch kaum fehlt der äußere Feind, treten die inneren Spannungen unter den Kurden offen zu Tage. Der IS hat ein Nachbargebäude vermint, im Rahmen der Übung wird das Ganze gesprengt. Eines haben die Jesiden den Peschmerga nicht vergeben: Als 2014 der IS anrückte, da hätten die Peschmerga sich erst mal zurückgezogen. “Die Leute hier glauben der Regierung in Erbil nicht mehr,“ sagt der Je-Be-Sche-Kommandant Masloum Schingali, „als das Massaker geschah, war diese Regierung für den Sindschar verantwortlich. Die Leute kehren nicht zurück, weil sie dieser Regierung nicht mehr trauen.“
Das hier ist keine Übung. Im Sindschar stehen sich die einstigen Kampfgenossen Peschmerga, PKK und "Je-Be-Sche" jetzt feindlich gegenüber. Im März wurden hier bei Zusammenstößen mit den Peschmerga 12 Je-Be-Sche-Kämpfer getötet. Seitdem belauern sich beide Seiten. Die Peschmerga, die PKK und die jesidischen Widerstandseinheiten – alles Kurden. Aber der Konflikt zwischen ihnen verhindert den Wiederaufbau. Und so versorgen Peschmerga-Kämpfer vertriebene Jesiden mit Trinkwasser. Wäre der Streit beigelegt, könnten die Menschen aus den Camps vielleicht in ihre Häuser zurückkehren.
Jesiden wollen sich jetzt selber schützen
Doch nach Entspannung sieht es nicht aus. Der Oberkommandierende der Peschmerga im Sindschar will weder der PKK noch den jesidischen Widerstandseinheiten entgegenkommen. “Natürlich wird es Probleme geben, wenn die PKK nicht verschwindet,“ sagt Kasim Shesho, Kommandant Peschmerga im Sindschar und meint damit: gewaltsame Auseinandersetzungen. „Die kommen und rekrutieren Zwölfjährige, nehmen sie den Eltern weg und machen sie zu Kämpfern. Das sind doch Terroristen.“
Shilan, die Kämpferin von den Jesidischen Widerstandseinheiten, sieht das naturgemäß anders. Familienbesuch, der erste seit zwei Monaten. Shilans Eltern sind stolz auf die Tochter. Sie teilen ihre Ablehnung der Kurdenregierung und der kurdischen Peschmerga-Armee. „Wir werden sie hier nicht mehr akzeptieren,“ sagt der Vater Qahtan. „Wir wollen uns hier jetzt selbst verwalten, und wir wollen auch unsere eigenen jesidischen Sicherheitskräfte. Wir brauchen hier keine Peschmerga mehr, die uns vor irgendwas beschützen.“
Den Krieg gegen den IS haben die Jesiden beinahe gewonnen, wenn auch zu einem hohen Preis. Doch eine friedliche Zukunft hat Shilan deshalb noch lange nicht. So lange der Konflikt mit der Regionalregierung nicht beigelegt ist, wird der Wiederaufbau des Sindschar vermutlich auf sich warten lassen.
Eine Film von Volker Schwenck (ARD-Studio Kairo).
Stand: 16.07.2019 03:17 Uhr
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