So., 12.03.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Irak: Die Rapper-Szene – Neue Ansichten und eine neue Kultur
Es sind Lieder/Tracks über ein Land und seine Probleme: Korruption, Gewalt, Umweltverschmutzung – Sprechgesang voller Protest-Noten. Rappen, sagt Ahmed, ist der Blick, die Sprache der Straße. Uns ist das sehr wichtig. Wir müssen nah an der Straße sein, den Leuten eine Stimme geben, der Community, der Gemeinschaft.
Den Menschen eine Stimme geben
Wenn mitten in der stärksten Strophe auf einmal alles stockdunkel wird, ist ihnen mal wieder klar geworden, wo sie eigentlich sind. "Ja, hier im Irak, da gehören Stromausfälle leider dazu", klagt Ahmed. "Wir haben einen Generator, aber der braucht, bis er anspringt – und deswegen müssen wir immer, wenn wir unsere Tracks aufnehmen, neu ansetzen. Wir haben uns dran gewöhnt." Es liegt ein Beat über Hit. Hit so heißt ihre kleine Stadt an den Ufern des Euphrat, Region Anbar, West-Irak.
Ahmed und seine Gang haben Rap und Hip-Hop-Sound hierhergebracht. "Rappen – das ist der Blick, die Sprache der Straße. Uns ist das sehr wichtig. wir müssen nah an der Straße sein, den Leuten eine Stimme geben, der Community, der Gemeinschaft." Das Herzstück ihrer Gemeinschaft: Ein Tonstudio samt Schnittplatz. Ahmed hat das alles aus Ersparnissen, Spenden, aber auch dank Auftragsproduktionen finanziert. Volksmusikaufnahmen spielen Geld ein – um genau damit dann selbst gedrehte und getextete Hip-Hop-Videos zu produzieren.
Lieder über Korruption, Gewalt und Umweltverschmutzung
Es sind Lieder über ein Land und seine Probleme: Korruption, Gewalt, Umweltverschmutzung – Sprechgesang voller Protest-Noten. Kritisch und kreativ zu sein. Im Irak so gar nicht selbstverständlich. "Ich bin glücklich, dass ich hier so einen Frei-Raum schaffen konnte, in dieser schwierigen Umgebung. In den letzten Jahren gab es hier niemanden, der Kunst gefördert hätte. Vielleicht mal ein Malkurs oder so, aber nichts für die Musik – schon gar nicht für sowas wie Hip-Hop."
Sein statt nicht sein. Leider nur im Studio, nicht auf der Bühne, denn Konzerte erlauben die lokalen Behörden kaum. Zu fremd, zu exotisch die Rap-Kultur, die hier vor allem als Musik der Amerikaner, also der früheren Besatzer gilt. Beliebt ist Ahmed trotzdem. Seine Fans kennen ihn aus dem Internet – oder aus der Schule. Solange die eigene Musikkarriere noch nicht genug Geld abwirft, hat er weiter einen richtigen Job: Lehrer. Unterrichtet Englisch an einer Dorfschule. "Ja, ein paar von meinen Schülern wissen, dass ich rappe. Obwohl das hier eine arme Gegend ist und sie kaum Handys oder Zugang zu sozialen Medien haben. Aber ein paar eben doch – deswegen wissen sie, was ich mache."
Moderne Musik in einem traditionellen Umfeld
Auf dem Schulhof: Strammstehen zur Nationalhymne, in der Freizeit Strophen texten, Botschaften verbreiten. Ahmeds Leben – immer auch eine Gratwanderung. Sein Vater organisiert Pilgerreisen nach Mekka. Mit der Musik des Sohnes hat der streng gläubige Mann lange gehadert. "Sänger zu sein, ist in unserer Kultur an sich nichts Gutes – und dann ist er ja noch nicht einmal ein richtiger Sänger. Ja, er setzt sich ein für Menschen, das ist gut. Trotzdem war ich dagegen, dass er das alles macht. Auch weil man so wenig versteht. Wie sie da singen, die Worte, das ist doch einfach alles viel zu schnell. Man versteht überhaupt nichts." Vater gegen Sohn, Tradition gegen Moderne.
Ahmed hat das nächste Tabu im Visier. Mit einer Freundin hat er einen gemeinsamen Track aufgenommen – wer die rappende Frau ist, darf niemand wissen. Familie und Gesellschaft seien einfach zu konservativ. "Alle Eltern im Irak sollten ihren Töchtern mehr Freiheit geben, damit auch die ihr Talent zeigen können. Damit auch Mädchen endlich den Mut finden dürfen, Stellung zu wichtigen Themen zu beziehen." Bis es aber so weit ist machen sich nur die Jungs fertig zum nächsten Videodreh. im neuen Clip geht es um den Stolz, Iraker zu sein und Hip-Hop zu machen. Trotz aller Probleme, trotz aller seltsamen Reaktionen. "Die Leute kucken uns an, als ob wir nicht ganz dicht sind. Früher haben sie uns weggescheucht – das machen sie immerhin mehr. Es ist nicht einfach – aber wir lassen uns nicht vertreiben. Gottseidank". Und so wird weiter gerappt, in der Provinz Anbar im Irak. In Hit – der Stadt mit dem Beat.
Autor: Simon Riesche, ARD-Studio Kairo
Stand: 12.03.2023 20:47 Uhr
Kommentare