Mo., 19.10.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Kanada: Stimmenfang mit Einwanderern
"Oh Kanada – der wahre Norden stark und frei" – Zugegeben – textsicher sind diese Neubürger noch nicht. Aber sie sind am Ziel ihrer Träume. Der Eid auf das Land. Vier Jahre lang haben sie bewiesen, dass sie ordentlich arbeiten, Steuern zahlen, und alle Gesetze befolgen – nun sind sie aufgenommen.
Mit diesem Eid erhalten sie alle Bürgerrechte und können morgen an den nationalen Wahlen teilnehmen. Die Tibeterin meint, "Wenn ich jetzt wähle, dann ist das mein Grundrecht." Und der Inder "Das ist ein Privileg, hier leben zu dürfen." Die Iranerin, "Ich bin stolz auf mich."
100.000 Neubürger pro Jahr
Der Blick über den Ontariosee auf die Millionenmetropole Toronto – Wirtschaftsmotor Kanada. Ein modernes Babylon mit über 140 Sprachen, die hier gesprochen werden. Hier muss man Fremde nicht suchen. Mehr als die Hälfte der Einwohner Torontos sind nicht hier, sondern im Ausland geboren – Einwanderer.
100.000 Neubürger kommen pro Jahr in Toronto hinzu und sie bestimmen mit. So wie Amarjit Sangha, der für die kanadischen Sozialdemokraten ins Parlament will. Er kommt aus dem Punjab Nordindien – ein Sigh. Als Lastwagenfahrer hat er mal angefangen, als Punjabi Fernsehmoderator Karriere gemacht und morgen will er ins Parlament gewählt werden? "Ich bin ein richtiger Kanadier – klar. Meine Kinder sind hier geboren, meine Familie lebt hier und ich werde hier meinen letzten Atemzug machen."
Niemand muss sich anpassen
Wahlkampf in Kanada ist vor allem Beinarbeit – in diesem Vorort von Toronto kommen 40 Prozent der Einwohner aus der Volksgruppe der Sighs. Hier spricht man Punjabi miteinander. "Natürlich wähle ich ihn, er ist doch mein Kumpel."
Auch die Kandidatin der Liberalen stammt in diesem Wahlbezirk aus Indien. Die Sighs – als Minderheit in ihrer alten Heimat verfolgt – haben es in Kanada zu beträchtlichen Wohlstand gebracht. Lastwagenfahrer, Transportunternehmer. Sie kontrollieren inzwischen in der Provinz Ontario diesen Wirtschaftszweig und wollen ihre Leute im Parlament sehen: "Jeder Kanadier weiß das. Auch wenn wir eine Hautfarbe haben, eine andere Religion ausüben – so sind wir doch alle Kanadier – du musst dich hier nicht anpassen." Ist das das Geheimnis dieses Landes? "Ja, so ist es." bekommt man als Antwort.
Alles ohne kanadische Leitkultur
Auch Rabia ist stolz darauf ,Kanadierin zu sein – sie ist eine muslimische Aktivistin, die ihr Kopftuch als politisches Statement trägt. Dort wo sie hergekommen ist – aus einem Dorf in Pakistan – wäre sie arm , unterdrückt und dumm geblieben, sagt sie . Und ihre Blindheit wäre ein schlimmer Makel, "Ich bin eine Kanadierin – ich habe einen Hochschulabschluss, eine Karriere gemacht. Ich verdanke diesem Land alles. Ich konnte aus meinem Leben etwas machen. Ich kann mich engagieren, habe mich als Stadtverordnete aufstellen lassen. Ich habe hier, meinen Lebenstraum verwirklichen können."
Mithilfe ihrer Nachbarin – eingewandert aus Schottland – bereitet sie den Truthahn vor – einen Halal Truthahn – so wie es ihre Religion vorschreibt. Es ist Thanksgiving, Erntedankfest. Überall im Lande treffen sich die Familien zum Truthahnschmaus. Alle ihre Kinder sind gekommen – die älteren Töchter studieren.
Thanksgiving – das ist Tradition in Nordamerika. Aber eine kanadische Leitkultur – die gebe es nicht, "Wir haben hier in Kanada ein Gesetz, dass alle auffordert, die mitgebrachte Kultur zu leben, die Feste zu feiern und die eigene Kultur mit den anderen zu teilen und so haben wir hier eine Art Mischung aus ganz vielen Kulturen."
An der Wahlurne gegen gegen Armut und Unterdrückung
400.000 Muslime leben im Raum Toronto: Abendgebet in der muslimischen Gemeinde. Rabia ist hier aktiv als Sozialarbeiterin – hilft behinderten Kindern. Die Gemeinde hat sich in der Turnhalle versammelt. Der Imam wird sprechen und die konservative Regierung von Premier Harper kritisieren.
So wie Rabia sind viele Muslime beschämt darüber, dass das so liberale Einwanderungsland Kanada so wenige Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen will – aus Sicherheitsgründen.
Alaa El Sayed meint,"Bei uns in Kanada könnt ihr darauf antworten, ihr könnt gegen Armut und Unterdrückung stimmen, ihr könnt ausdrücken, dass ihr nicht damit einverstanden seid, dass syrische Flüchtlingskinder tot an der Küste der Türkei angespült werden. Geht wählen. Ihr könnt an der Wahlurne die richtige Antwort darauf geben."
So sieht sie aus – Die Einbürgerungsurkunde. Das Erinnerungsfoto mit dem Richter. Auch er war als Einwanderer ins Land gekommen, aus Polen. Er sagt: Wer Einwanderer nach Kanada rufe, der könne engagierte Bürger für Kanada ernten. Und das sei gut so.
Autor: Markus Schmidt/ARD New York
Stand: 09.07.2019 21:12 Uhr
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