Mo., 11.04.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Mehr Flüchtlinge als Einwohner
Etwas Schönes herstellen, etwas, das Freude macht, etwas, das einem Kind ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Krieg, Elend und Tod bestimmten Jahre lang das Leben dieser Syrerinnen. Jetzt versuchen sie in der türkischen Grenzstadt Kilis ihrem Leben wieder Sinn zu geben. Vor drei Jahren flieht die Lehrerin Neclar Shawa vor den Bomben aus Damaskus nach Kilis und startet das Projekt "Kareemat". Das bedeutet so viel, wie stolze, selbstständige, aber auch großzügige Frauen.
Neclar Shawa erinnert sich: "Als ich durch die Straßen von Kilis ging und die vielen syrischen Frauen sah, die nichts zu tun hatten, habe ich sie gefragt, ob sie denn irgendetwas können. Viele von ihnen erzählten, dass sie nähen und schneidern können. Damals habe ich unserem türkischen Vermieter die Geschichte erzählt und er hat mir Geld gegeben. Ich habe Stoff und Schneiderwerkzeug gekauft, die Frauen mit nachhause genommen und dann ging es los."
Arbeit für die Frauen und ein Kindergarten
Das Projekt hat Erfolg: Die Frauen arbeiten und verkaufen ihre Produkte. Weil die meisten Kinder haben, gründet Neclar einen Kindergarten. Inzwischen beschäftigt sie 20 Syrerinnen.
Ein türkischer Vermieter, der seiner syrischen Mieterin Geld schenkt, um etwas aufzubauen: Das steht exemplarisch für das Wunder der türkischen Grenzstadt Kilis. Vor dem syrischen Bürgerkrieg leben 90.000 Türken und auch schon einige Syrer in Kilis. Dann kommen die syrischen Kriegsflüchtlinge – und es kommen viele. Inzwischen leben in Kilis, das nur zehn Kilometer hinter der türkisch-syrischen Grenze liegt, etwa 130.000 Syrer. Zwar wehen im Zentrum der Stadt die türkischen Fahnen. Doch der Einfluss der syrischen Araber ist allgegenwärtig.
Die meisten Flüchtlinge leben für geringe Mieten mitten unter den Türken in bescheidenen Wohnung oder Häusern der Stadt. Mehrere tausend Syrer sind in einem Flüchtlingslager am Rande von Kilis untergebracht.
Ein Bürgermeister mit einem Plan
Hasan Kara heißt der stolze türkische Bürgermeister der Stadt. Kara hat einen Plan: Er will, dass Kilis für die aus seiner Sicht erfolgreiche Integration von Flüchtlingen den Friedensnobelpreis bekommt. Deshalb unterstützt Hasan auch gerne Neclars Frauenprojekt. Dazu passt symbolisch die Friedenstaube. Doch wie bei vielen großen Projekten gibt es auch bei Hasan Karas Projekt kleine Startschwierigkeiten. Trotzdem ist Kara guten Mutes: "Ich lade die Vereinten Nationen und alle Hilfsorganisationen der Welt ein, nach Kilis zu kommen, um zu sehen, wie gastfreundlich hier die Menschen gegenüber den Syrern sind, obwohl es der Wirtschaft nicht gut geht und die Möglichkeiten in Kilis begrenzt sind."
Und Kara hat Recht: Mehr Flüchtlinge als türkische Bewohner und ohne Übergriffe gegen Syrer oder brennende Flüchtlingslager. Das muss erst einmal jemand den Türken hier nachmachen. Deshalb hat der Bürgermeister die Kampagne "Friedensnobelpreis für Kilis" gestartet.
Gute Aufnahme in der Stadt
Um zu zeigen, dass es den Syrern in Kilis gut geht, nimmt uns Kara mit auf eine Tour durch die Geschäfte der Stadt, in denen viele Flüchtlinge arbeiten. Zwei syrische Frauen sagen uns: "Ich lebe hier seit vier Jahren. Es gibt viele nette Türken, aber auch welche, die uns nicht so nett behandeln. Doch im Großen und Ganzen funktioniert das Zusammenleben gut." "Unsere Chefin ist eine Türkin und sie behandelt uns wie Schwestern."
Das ist die Sonnenseite von Kilis. Doch der nur zehn Kilometer entfernte Bürgerkrieg in Syrien wirft auch immer wieder seinen Schatten auf die türkische Stadt. So etwa vergangenen Donnerstag: Zwei Granaten schlagen in Kilis ein; eine 50 Meter neben einer Schule; eine Zweite in einem Wohnhaus. Ob Blindgänger oder gezielt ist danach schwer auszumachen. Ein Mann wird verletzt. Kurz darauf schimpfen türkische Bewohner der Stadt auf die Syrer in Kilis, auch wenn diese gar nichts mit den Granaten zu tun haben: "Ich will nicht mehr, dass diese Syrer hier leben. Ich will, dass sie gehen. Wir können nicht mehr. Ich will sie nicht hier haben." "Wegen den Arabern gibt es hier keine Arbeit. Ich bin arbeitslos. Es kommen immer mehr und mehr."
Doch das sei nicht die Meinung der Mehrheit, sagt Neclar Shawa. Sie und ihr Mann sind überzeugt, dass die Koexistenz in der türkischen Grenzstadt funktioniert: "Wenn ich durch die Straßen von Kilis laufe, grüßen mich der Gemüseverkäufer und der Friseur. Wir haben eine gute Beziehung zueinander und sie sind sehr freundlich zu mir. So war es nicht einmal in Syrien."
Neclar wünscht sich, dass ihre Verwandten aus dem umkämpften Syrien auch nach Kilis kommen können. Doch die Türkei hat ihre Tore für syrische Kriegsflüchtlinge vorerst geschlossen. So hat das Wunder von Kilis auch seine Grenzen.
Autor: Oliver Mayer-Rüth / ARD Istanbul
Stand: 11.07.2019 13:44 Uhr
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