Mo., 29.06.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Lettland: Die Russin Tatjana, der Engel von Karosta
Karosta an der lettischen Westküste war schon zu Zeiten der Zaren eine wichtige Militärbasis. Geblieben sind heute nur Trümmer – Sinnbild für das Leben hier.
Als die Militärs nach der Unabhängigkeit abrückten, blieben etwa 30.000 Menschen, vor allem Russen, und hofften auf ein besseres Leben im freien Lettland. Kaum eine ihrer Hoffnungen hat sich erfüllt. Wer in Karosta lebt, kann sich anderswo keine Wohnung leisten. Aus der Militärbasis wurde ein Ort ohne Perspektive, mit hoher Arbeitslosigkeit. Das einzige, was hier glänzt, ist die Kuppel der orthodoxen Kirche.
Tatjana Tarasova hat einen Zufluchtsort für Jugendliche gegründet
Tatjana Tarasova lebt hier. Die Russin will sich nicht damit abfinden, dass ihr Karosta ein Platz voller Elend und Zerstörung ist. Sie will nicht aufgeben, obwohl die lettischen Behörden sich kaum um den heruntergekommenen Ort kümmern. "Sehen Sie es sich an: Dieser Vandalismus, das ist wie eine Infektion. Das habe ich den Beamten auch gesagt: Es bleibt ja nicht bei einem verwüsteten Haus. In ihrer Wut haben die Jugendlichen Geschmack daran gefunden, sie haben schon alles mit Graffitis besprüht und an den anderen Häusern geht es auch schon los.", sagt Tatjana.
Ein paar Straßen weiter liegt Tatjanas Jugendzentrum. 15 Jahre ist es her, dass Kinder aus der Nachbarschaft bei ihr um etwas zu essen gebettelt haben, deshalb hat sie einen Zufluchtsort für Jugendliche gegründet. Die Familien sind häufig zerrüttet. Die meisten russischen Jugendlichen erleben Gewalt und Verwahrlosung. Bei Tatjana finden sie ein zweites Zuhause – und einen Platz, um ihre Wut los zu werden.
Marija kommt jeden Tag. Die 16-Jährige geht auf die Mittel-Schule. Ihr Vater versucht, sie und ihre sechs Geschwister als Bauarbeiter durchzubringen. Wie für viele wurde Tatjana Tarasova für Marija zur Ersatzmutter. Sie nennen sie den "Engel von Karosta“
"Wir sind eine große Familie"
Dass es nach der Schule immer etwas zu essen gibt, ist nicht für jeden hier selbstverständlich. Alle müssen mithelfen. Und gebetet wird vor jeder Mahlzeit, das sind Tatjanas Regeln, an die sich Marija und die anderen halten.
Geld von der Stadt gibt es nicht, die Kassen sind leer. "Es gibt bei den lettischen Behörden immer noch Leute, die behandeln uns wie Abschaum", erklärt Tatjana Tarasova. Dafür helfen christliche Gemeinden aus Norwegen.
"Wir halten zusammen, sind praktisch eine große Familie“, sagt Tatjana. "Viele kommen direkt aus der Schule hierher, dann ist es wie in einem Taubenschlag und dann können wir uns erst mal erholen. Nach der Schule sind wir immer ziemlich müde", erzählt Marija.
Besuch im alten Militärgefängnis als wichtige Erfahrung
Einige von Tatjanas Schützlingen sind schon zu Jugendstrafen verurteilt worden. Sie will verhindern, dass sie noch weiter abrutschen. Deshalb zeigt sie ihnen ein Gebäude, um das die Einwohner von Karosta früher am liebsten einen großen Bogen gemacht haben: Das alte Militärgefängnis aus Sowjetzeiten.
Die Herren am Tor sehen aus, als wäre man in einer vergangenen Zeit gelandet. Das soll auch so sein. Wer das Gefängnis besuchen will, unterschreibt vorher, dass die Regeln des Jahres 1975 gelten. Das gilt auch fürTatjanas Jugendgruppe.Der Ausflug in die gelebte Geschichte soll ihnen zeigen, was es heißt,in einem Gefängnis zu landen.
Hilflos als Gefangener in einem Sowjet.Gefängnis
Direkt am Eingang beginnt das Rollenspiel. Die Schauspieler in ihren Uniformen führen eindrucksvoll vor, wie hilflos man als Gefangener in einem Sowjet-Gefängnis war. Liegestütze als Strafe, weil es nicht schnell genug vorangeht. Marija kommt schnell an ihre Grenzen
Seit ein paar Jahren gibt es diese Führungen.Schulklassen und Jugendgruppen aus dem gesamten Baltikum kommen nach Karosta. "Weiter zurück", brüllt der verkleidete Wärter. Das Verhör ist besonders unangenehm. Der angebliche Offizier will wissen, was Marija in ihrer Freizeit macht. "In meiner Freizeit besuche ich das Jugendzentrum und helfe zuhause", sagt sie. Doch die Antwort reicht nicht. Es kommen immer mehr Nachfragen, schließlich stimmt Marija allem zu, was man ihr unterstellt.
Nach einer Stunde hat die Gruppe es überstanden. "Das schlimmste war der Ton, in dem sie mit uns geredet haben und das Benehmen. Ich fand es lehrreich, aber es war schon schrecklich. Da muss man wirklich Kraft haben, um das auszuhalten", sagt Marija. "Es war so etwas wie ein Experiment. Eine wichtige Erfahrung, um mit zu bekommen, was es bedeutet frei zu sein und was es bedeutet, im Gefängnis zu landen", ergänzt Tatjana.
Tatjana hofft, dass die Lehren aus diesem Experiment noch lange anhalten.Es sei für die russischen Jugendlichen nicht einfach, in Karosta aufzuwachsen.Entäuscht von dem Land, in das ihre Eltern so viel Hoffnung gesetzt hatten.
Autor: Clas Oliver Richter, ARD-Studio Stockholm
Stand: 05.07.2019 11:44 Uhr
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