So., 26.06.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Litauen: Überlebenskurse für Schüler
Statt ins Klassenzimmer geht es für sie am Morgen ins Grüne. Sie alle sind Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums in der litauischen Küstenstadt Kleipeda. Beim Ausflug gehen aber nicht ihre Lehrer:innen vorneweg. Diesmal übernimmt Litauens Bürgerwehr den Unterricht. Auch Justina Gelminauskaité ist dabei. Ihre erste Aufgabe: Erste Hilfe. Eine Aderpresse, die besonders vom Militär eingesetzt wird. "Wir müssen die Aderpresse schnell festbinden, damit die Blutung gestoppt wird. Nur so können wir im Ernstfall Leben retten!", sagt die Schülerin.
Für den Ernstfall gerüstet sein
Sie haben diesen Tag organisiert: Litauens Schützen-Union. Eine Art paramilitärische Heimwehr. Sie sind eng verbunden mit der Armee. Ihre Ausrüstung und Übungen zahlen sie aber selbst. Männer wie Šarūnas Vaičiulis sind jederzeit bereit, ihr Land zu verteidigen. Und die Truppe braucht Nachwuchs. Ein Tarnzelt aufzubauen, soll Lust auf mehr machen. "Die Schüler lernen, wie sie sich vor Regen und Kälte schützen können. Und welchen Untergrund sie im Winter wählen sollten, um nicht zu erfrieren, wenn sie eines Tages vielleicht Mal als junge Schützen im Wald übernachten müssen. Tannenzweige zum Beispiel sind gut, denn sie weisen die Kälte ab", erklärt Šarūnas.
Bei jeder Übung geht es um Geschwindigkeit. Und auch die Tonart ist anders als im Klassenzimmer. "Das muss viel schneller gehen, da die Zeit ist um und das Zelt steht noch nicht! Da müsst ihr noch einmal nacharbeiten!" Auch die 15-jährige Justina und ihre Freundinnen haben noch so ihre Probleme. Das Training sei dennoch viel besser als so mancher Unterrichtstag. "Es ist gar nicht so einfach. Aber wenn es ernst wird, können wir dieses Wissen hier gut gebrauchen", sagt Justina.
Die Teenager:innen haben ihren Spaß. Und doch hat sich die Stimmung in Litauen durch Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert, erzählt uns Sarunas: "Ich habe vorgesorgt. An verschiedenen Orten habe ich Überlebenspakete gelagert. Wir haben Pläne, wo wie uns mit der Familie treffen würden, wenn auch wir angegriffen werden. Wir haben die Gefahr ja nicht nur von einer Seite. Wir haben die Exklave Kaliningrad auf der einen und Belarus auf der anderen Seite. Auch Russland selbst ist nicht weit. Die Menschen sind beunruhigt."
Eine präsente Grenze
Klaipeda liegt im Westen Litauens. Direkt an der Ostsee. Als einziges baltisches Land hat Litauen eine Grenze mit Belarus im Osten und mit der russischen Exklave Kaliningrad im Westen. Die Schnittstelle des aktuellen Konflikts zwischen Litauen und Russland. Die Grenze zu Russland verläuft auch durch das Kurische Haff. Nahe Nidden. Die Sandstrände hier sind voller Geschichte. Einst gehörte die Region zu Preußen. Nach einer kurzen Zeit der Unabhängigkeit Litauens kamen erst die Nazis, zum Ende des Zweiten Weltkriegs dann die Rote Armee. Seit 91 ist Litauen unabhängig. Die Grenze zu Russland verläuft seitdem direkt durch die riesige Düne. Noch immer gibt es hier Fischer wie Alvydas Kazlauskas. Seit fast 50 Jahren fährt er schon mit seinem Boot raus. Immer wieder hat er dabei miterlebt, wie sich seine Heimat verändert. Als es noch die sowjetische Kolchose gab, konnte er im gesamten Haff fischen. Doch jetzt ist an der Roten Boje am Horizont Schluss.
"Früher haben wir unsere Netze dort hinten auslegen dürfen. Aber jetzt verläuft hier eben die Grenze. So haben sie uns auch von den Fischgründen abgetrennt. Denn dort drüben gab es echt viel!", erzählt der Fischer. Zwei Aale und ein paar Rotfedern sind ihnen ins Netz gegangen. Nach drei Stunden Arbeit bleibt nur eine maue Ausbeute. Auf dem Weg zurück geht es vorbei an der litauischen Küstenwache. Seit Wochen zeigt sie hier wieder mehr Präsenz. Sorgen über Provokationen oder gar Angriffe aus Russland hat der alte Fischer jedoch nicht: "Warum soll ich denn Angst haben? Wir waren doch über all die Jahre Freunde. Ich habe immer noch viele Bekannte da drüben in Kaliningrad." Hat sich etwas seit dem Krieg in der Ukraine verändert, wollen wir wissen? "Wir waren alle mal Freunde hier. Nun ist es anders gekommen. Da kann man wohl nichts machen", sagt Alvydas.
Während die Fischer wieder in den Hafen fahren, erwarten die Schüler:innen ihre letzte Übung. Feuer machen. Zum Abschluss gibt es für jeden eine Urkunde. Justina hat alle Aufgaben bestanden und Lust auf mehr: "Ich denke, es ist wichtig, auf Krisen vorbereitet zu sein. Ich weiß jetzt, wie ich im Notfall zum Beispiel ein Zelt aufbauen kann. Wir sind tapfere Kinder. Viele unserer Generation werden auch den Wehrdienst machen."
Einst hatte Litauen den Wehrdienst abgeschafft, ihn 2015 aber wieder eingeführt. Nachdem Russland die Krim besetzt hatte. Wenn sie hier ihr Abitur in der Tasche haben, werden sich wohl viele von ihnen bei der Armee melden.
Autor: Christian Blenker/ARD Stockholm
Stand: 26.06.2022 20:50 Uhr
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