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Europa/Mexiko: Digitale Menschenrechtler

Europa/Mexiko: Digitale Menschenrechtler | Bild: Forensic Architecture

Iguala, Mexiko, 2014: In einer Nacht werden sechs Menschen erschossen und 43 Studenten verschleppt – sie sind bis heute verschwunden. Drei Jahre danach ist der Fall nicht abschließend geklärt, kein Täter wurde bislang verurteilt. Doch digitale Technologien bringen neue Chancen für die Ermittlungen. Wenn ein Staat nicht tätig wird, werden Menschenrechtler aktiv.

Im Fall von Iguala haben sie den Fall rekonstruiert und ins Netz gestellt. Auch in anderen Fällen – etwa bei Kriegsverbrechen – nutzen Menschenrechtsorganisationen, aber auch der Internationale Strafgerichtshof, zunehmend digitale Ermittlungen, etwa um Bildmaterial aus den sozialen Netzwerken zu verifizieren, das als Beweis dienen kann. Kristin Becker (ARD-Aktuell Stuttgart) und Xenia Böttcher (ARD-Studio Mexiko) berichten.

Iguala, Mexiko, vor drei Jahren, es ist eine Nacht des Schreckens, Bewaffnete greifen mehrere Busse mit Studenten an, sechs Menschen werden getötet, 43 junge Männer verschleppt. Ein Fall der Mexiko erschüttert – denn bis heute ist unklar, was mit ihnen passiert ist. Omar García war dabei in jener Nacht: viele seiner Freunde und Kommilitonen – verletzt, tot oder verschwunden. "Ich spüre immer noch die Angst dieser Nacht gespürt habe, den Terror, die Empörung, Wut darüber, nicht zu wissen, was da passierte."

Die Behörden tun nichts

Die offiziellen Ermittlungen: geprägt von Widersprüchen und Falschinformationen, Verdächtige gibt es viele, verurteilt: bisher niemand. Weil die Behörden unwillig oder unfähig sind, versuchen Menschenrechtsorganisationen anders zu ermitteln. In ihrem Auftrag hat "Forensic Architecture", ein internationales Team von Wissenschaftlern und Künstlern, offen zugängliche Quellen ausgewertet und visualisiert – darunter Zeugenaussagen wie die von Omar. Die interaktiven Karten – sie bieten eine digitale Rekonstruktion der Tatnacht. Spurensuche, auch für Omar. "Wo warst du als sie geschossen haben?" – "Ich bin da lang gerannt."

Demonstranten mit Fotos von vermissten Angehörigen
Das genaue Schicksal der 43 Verschleppten ist noch nicht geklärt.  | Bild: SWR

Der Fall ist unübersichtlich – Militär, Polizei, kriminelle Banden – sie alle wahrscheinlich involviert. "Die Rekonstruktion soll es ermöglichen, die verschiedenen Tatorte zu sehen, das Ausmaß der Gewalt zu begreifen und wie koordiniert das alles stattfand", erklärt Irving Huerta von "Forensic Architecture". "Das versteht man nicht leicht, wenn man nur eine Akte mit 5 oder 600 Seiten hat." Tatortbegehung in 3-D. Die Rekonstruktion hilft zu verstehen, was, wann passiert ist. Geodaten, Fotos, Videos als Basis. Das Projekt macht den komplexen Fall zugänglich in einer Ausstellung, aber auch im Netz.

Ermittlungen aus der Ferne

Menschenrechte und digitale Ermittlungen. Auch Amnesty International nutzt diese Möglichkeit immer häufiger. Seit einem Jahr schult die Organisation Studenten wie hier in England. Sie sollen dabei helfen, Videos und Fotos aus sozialen Netzwerken zu prüfen. Olivia Iannelli ist von Anfang an dabei. Die digitalen Medien – eine große Chance, findet sie. "Dadurch können die Menschen vor Ort die Dinge wieder in ihre eigenen Hände nehmen", meint die Menschenrechtsaktivistin Olivia Iannelli. "Sie können einfach ihr Handy anmachen, aufnehmen was passiert und Beweise sammeln." Ziel ist es dann, solches Material zu verifizieren – wo wurde es aufgenommen und wann? Die digitalen Detektive suchen nach allen möglichen Informationen: Wetterbedingungen, der Sonnenstand werden ausgewertet. Die Bilder aus dem Netz – eine mögliche Quelle für die Wahrheit. "Digitale Bilder können Beweise liefern", sagt Olivia Iannelli, "wir können die Zuständigen zur Verantwortung ziehen mit einem Youtube-Video."

Schild mit Aufschrift "International Criminal Court"
Der International Criminal Court wird u.a. tätig bei schweren Kriegsverbrechen. | Bild: SWR

Videos wie dieses zum Beispiel. Das soll einen mutmaßlichen libyschen Kriegsverbrecher zeigen. Auch auf Basis solcher Aufnahmen hat der internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehl gegen ihn erlassen. Das Gericht nutzt digitale Möglichkeiten, um zu ermitteln – auch aus der Ferne. "Für uns ist diese Fülle an Informationen großartig", sagt Madeleine Schwarz, Staatsanwältin am Internationalen Strafgerichtshof. "Nicht alles ist relevant, aber wir können sehr effizient auf diese Informationen zugreifen. Und die kommen möglicherweise von Orten, zu denen wir keinen Zugang haben."

Weitere Ermittlungen anstoßen

Um digitale Quellen auszuwerten, hat der internationale Strafgerichtshof inzwischen eigene Cyber-Ermittler. Sie prüfen Daten und Technologien, suchen nach Manipulationen und Nachweisen der Echtheit. Die digitalen Beweise stehen dabei aber nicht für sich allein. "Wir suchen immer auch nach anderen Quellen, um die Informationen zu bestätigen, die in einem Video oder Foto enthalten sind. Das können Zeugen sein oder andere Dokumente, wir schauen eine Reihe von unterschiedlichen Quellen an."

Computeranimation
Tatortbegehung in 3-D. | Bild: SWR

Digitale Technologien – um Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und zu verfolgen. Gerade da, wo staatliche Institutionen versagen. Im Fall der verschleppten mexikanischen Studenten hatte eine Behörde Filmmaterial von Überwachungskameras einfach vernichten lassen. Das Team von "Forensic Architecture" hat es digital nachgebaut – um zu sichtbar zu machen, was bei den offiziellen Ermittlungen ignoriert wurde. "Unser Projekt kann die zentrale Frage, wo die Studenten sind, nicht beantworten" erklärt Irving Huerta von "Forensic Architecture". "Aber es kann weitere Untersuchungen anstoßen."

Darauf hofft auch Omar. Die Nacht von Iguala, sagt er, hat für ihn nie aufgehört. "Selbst wenn es für uns vielleicht irgendwann Gerechtigkeit geben sollte, bestimmt das alles weiterhin unser Leben. Diese schlimmen Taten haben uns gezeichnet, und wir kämpfen dafür, dass sich so was nie wiederholt." Das digitale Projekt: auch ein Mahnmal, das vielleicht hilft, doch noch zur Wahrheit zu finden.

Stand: 31.07.2019 22:34 Uhr

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