So., 06.04.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Brasilien: Mehr Sicherheit für Fußballtouristen?
Es war ein Szenario, das eher an Krieg erinnert, als an Vorbereitungen für die Fußball- WM: Die Favela Maré in Rio de Janeiro steht seit Jahrzehnten unter Kontrolle des organisierten Verbrechens. Das will die Staatsgewalt vor Beginn des Fußballturniers unbedingt ändern.
Weit über 1.000 Militärpolizisten rücken vor einer Woche ein. Es gibt ein paar Festnahmen, das Armenviertel ist in Minutenschnelle besetzt. Es gibt keinen Widerstand. Drogen werden sichergestellt, kleine Funde an Waffen und Munition werden gemacht. "Wir sind gekommen, um zu bleiben. Das ist unser Befehl", sagt André Luiz Vidal, Kommandant der Militärpolizei
Kein Vertrauen in die Polizei
Reconquista, Rückeroberung - so heißt der Versuch in Rio, der wieder mehr Sicherheit bringen soll. Einigen Einwohnern in Maré gefällt das, die meisten wie Marcelo und Higor sind skeptisch. Sie haben die Polizeiaktion mit Freunden dokumentiert, weil sie kein großes Vertrauen in die Polizei haben. Teile der Friedenspolizei gelten als korrupt und brutal. In Rocinha, einer anderen befriedeten Favela sollen sie im vergangenen Jahr einen Maurer zu Tode gefoltert haben.
"Wenn die Regierung mehr in Bildungsprojekte investieren würde, wäre das erfolgreicher und billiger als die Besetzung. Und es würde noch Geld für das schlechte Gesundheitssystem übrig sein", sagt Higor Antonio.
Kriminelle längst in anderen Favelas
Maré ist ein Komplex von verschiedenen Armenvierteln mit etwa 130.000 Einwohnern. Das Sagen hat hier die Mafia - verschiedene, schwer bewaffnete Drogenbanden. In diesem Umfeld sind Higor und Marcelo aufgewachsen.
Seitdem die Polizei und nun auch das Militär vor Ort sind, wird aufgeräumt. Es werden Fahrzeuge entfernt, die von den Gangs genutzt wurden. Barrikaden werden geräumt und es wird nach Waffen gesucht - bislang ohne große Erfolge. Die meisten Kriminellen sind längst verschwunden. In andere Favelas. Marcelo und Higor wundert das nicht, die Polizeiaktion war ja lange genug angekündigt.
"Polizei ist nur wegen der Fußball-WM hier"
In den nächsten Wochen sollen nun fast 3.000 Soldaten und Polizisten für Sicherheit sorgen. Eine Operation für die Bevölkerung heißt es offiziell.Daran glauben will hier kaum einer. "Die Polizei ist nur hier wegen der Fußball-WM. Sie ist nicht gekommen, um hier grundsätzlich etwas zu verändern. Der Staat hatte Angst, die Banditen hier an dem Ort zu haben, wo all die WM-Touristen vorbei müssen. Das ist der Grund für die Besetzung", sagt Marcelo Queiroz.
Das Armenviertel liegt direkt an der wichtigsten Verbindungsstraße vom Internationalen Flughafen in den Südteil von Rio. Für die Fußballfans gibt es keinen anderen Weg. Ein strategischer Punkt, der geschützt werden muss, gibt die Polizei offen zu: "Durch unsere Präsenz schaffen wir nun ein Sicherheitsgefühl für die Touristen und die Einheimischen, die diesen Ort passieren. Die Leute fühlen, dass die öffentliche Macht dieses Gebiet wieder unter Kontrolle hat", so Elitepolizist Luciano Pedro Barbosa da Silva.
Kriminalität wird nur verlagert
Von Maré aus, so heißt es, hätten in den vergangenen Monaten Drogenbanden versucht, Gebiete zurückzuerobern, aus denen sie zuvor verjagt wurden. Die Besetzungsaktionen der Polizei verlagern die Kriminalität nur, davon sind Marcelo und Higor überzeugt.
Die beiden Männer konnten mithilfe von Hilfsorganisationen studieren und sind nun beide Lehrer. Sie zeigen uns ihre alte Schule, die von einem internationalen Projekt unterstützt wird. Diese Jugendlichen haben die Chance auf ein Studium und wollen sie auch nutzen.
Schüler wollen Veränderung der Gesellschaft
Die Besetzungsaktion der Polizei ist das Thema, der Aufreger bei den Schülern."Ich will Kommissarin werden. Aber ich will nicht wie diese Polizisten sein. Ich möchte Teil der Veränderungen und der Geschichte Brasiliens sein. Ich will, dass Schluss ist mit der Korruption. Gerade bei der Polizei. Ich will es nicht mehr hinnehmen, dass die in Häuser geht und sich nimmt, was sie will", sagt Schülerin Diana Mendonca.
Mitschüler Marcelo Rodrigues ergänzt: "Wenn die Polizei im touristischen Teil, an der Copacabana unterwegs ist, schlägt sie niemanden und zerstört nichts. Aber bei uns werden Leute schon mal misshandelt. Deswegen will ich was beruflich erreichen und diese Leute in Zukunft zurechtweisen!"
Das Misstrauen sitzt tief, die Zweifel an der Befriedungsstrategie bleiben. "Diese Jugendlichen haben alle schon negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Das ist der Grund, warum sie so einen Zorn hegen", erzählt Marcelo Queiroz.
"Das ist keine gute Situation. Einige der Schüler könnten auch zu den Gangs stoßen, die Rachepläne gegen die Sicherheitsleute schmieden. Aber die meisten von ihnen wollen eine wirkliche Veränderung in der Gesellschaft. Das ist gut, aber wir sind auch in einer gefährlichen Situation", sagt Higor Antonio.
Nach dem WM-Finale zieht die Polizei wieder ab
Der Gouverneur von Rio hat die Besetzung von Maré als historisches Datum bezeichnet. Marcelo und Higor haben große Zweifel, ob damit die Probleme Marés nun Vergangenheit sind. Zumal jetzt auch verkündet wurde, dass die Einheiten nur bis zum 31. Juli bleiben sollen. Zwei Wochen nach dem Finale der WM.
Autor: Michael Stocks, ARD-Studio Rio de Janeiro
Stand: 29.07.2015 13:29 Uhr
Kommentare