So., 06.04.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ruanda: Täter und Opfer Tür an Tür
Vor 20 Jahren, am 7. April 1994 begann in dem kleinen afrikanischen Land Ruanda das große Morden. In den folgenden 100 Tagen wurden 800.000 Menschen niedergemetzelt - fünf Tote pro Minute. Als Auslöser des Massenmords gilt der Abschuss der Präsidentenmaschine am Vorabend des 7. April. Der Präsident war ein Hutu, wie 85 Prozent der Bevölkerung Ruandas. Die Opfer des Mordens waren überwiegend Tutsi. Sie stellten rund zehn Prozent der Bevölkerung.
Heute, 20 Jahre später, müssen die Mörder von damals mit den überlebenden Opfern zusammenleben. Mbyo ist ein Dorf wie 100 andere in Ruanda. Hier leben Hutu und Tutsi Haus an Haus, darunter auch verurteilte Mörder und ihre Opfer.
Täter und Opfer in einem Dorf
Xavier Nemeye, ein Hutu, saß neun Jahre im Gefängnis, weil er in Mbyo sechs Tutsi grausam niedergemetzelt hatte. Von seiner Zelle aus schrieb er an die überlebenden Angehörigen einen Brief der Reue und wurde begnadigt. "Die Hutu im Dorf mussten alle mitmachen, als im April 1994 die Losung ausgegeben wurde: Die Tutsi seien 'Kakerlaken' und müssten auch wie Ungeziefer vernichtet werden. Also machten wir nieder, was sich uns in den Weg stellte", erinnert sich Nemeye.
Laurencie Niyonagira ist eine Tutsi. Sie war 22 Jahre alt, als die Todesschwadronen ausschwärmten. Ihre Mutter und vier ihrer Geschwister wurden mit Macheten ermordet. Sie selbst hatte Glück. Sie kam mit dem Leben davon. "Eine Machete hat mich am Kopf getroffen. Ich blutete, aber irgendetwas hat die Männer abgelenkt. Da bin ich weggelaufen und habe mich im Wald versteckt. Auch dort lagen schon unzählige Leichen. Irgendwie haben sie mich übersehen."
"Habe drei Jahre gebraucht, um zu vergeben"
Xavier ist einer der Mörder von Laurencies Familie. Heute sind sie Nachbarn. Ihr Verhältnis zueinander wirkt eigenartig neutral. "Im Gefängnis habe ich Laurencie einen Brief geschrieben. Ich habe sie um Vergebung gebeten und ihr gezeigt, wo wir ihre Mutter und Geschwister verscharrt haben, denn das wusste sie bis dahin gar nicht", sagt Xavier Nemeye.
"Ich habe drei Jahre gebraucht, bis ich Xavier vergeben konnte. Als ich es schließlich tat, bekam ich endlich meinen inneren Frieden. Heute ist Xavier für mich ein Mensch wie jeder andere", entgegnet Laurencie Niyonagira.
Die Versöhnung fällt nicht allen leicht. Denn traumatisiert sind sie alle - Täter wie Opfer. Der Mund ist schnell, aber das Herz hinkt hinterher.
Ohne Verdrängung ist Vergangenheit nicht zu bewältigen
An die furchtbare Vergangenheit erinnern Gedenkstätten im ganzen Land. In der Kirche von Ntamara zum Beispiel hat man Kleidungsstücke von über 1.000 Menschen aufbewahrt, die hier im April 1994 ermordet wurden. In der Gruft darunter werden ihre Schädel und Gebeine aufbewahrt.
Ganz ohne Verdrängung ist die Vergangenheit nicht zu bewältigen. Dabei hilft auch der wirtschaftliche Erfolg. Am sichtbarsten ist dies in der Hauptstadt Kigali: Dem Wachstum wird alles untergeordnet. Die Regierung ist autoritär, freie Meinungsäußerung und Oppositionsparteien gibt es nur eingeschränkt. Was zählt ist der Blick in die Zukunft. Mit Banken und Internet will Kigali das Dienstleistungszentrum Ostafrikas werden - und ist auf dem besten Weg dorthin.
"Wir sind alle Ruander"
Auch auf dem Land gibt es Erfolgsgeschichten. Dennoch ist die Vergangenheit hier noch lebendiger als in der Stadt. Täter und Opfer leben zusammen auf engstem Raum. Im Dorf Mbyo haben wir uns noch mal mit Laurencie und Xavier verabredet. Xavier ist bereits da. Als Laurencie kommt, begrüßt sie alle mit Handschlag und setzt sich dann ganz bewusst an die Seite von Xavier. Täter und Opfer nebeneinander. Das soll die Aussöhnung beweisen. Aber ist es das auch wirklich?
"Was passiert ist, ist passiert. Heute gibt es keine Hutu und keine Tutsi mehr. Wir sind alle Ruander. Keine Ausweiskontrollen mehr. Keiner, der glaubt, an meiner Nase zu erkennen, zu welcher Gruppe ich gehöre", sagt Laurencie.
"Was sie sagt, ist wahr. Wir haben keine Vorurteile mehr. Der Genozid war das Werk von engstirnigen Politikern und ihren Helfern. Heute haben wir eine Regierung, die nicht mehr versucht, uns gegeneinander auszuspielen", erklärt Xavier.
Angeordnete Versöhnung
Ruandas Regierung hat Versöhnung angeordnet. Wie ernst es den Dorfbewohner mit Reue und Vergebung ist, ist schwer auszumachen. Schon wegen ihrer Kinder bleibt ihnen keine andere Wahl. Seit Jahrhunderten teilen beide Volksgruppen Sprache, Sitten und Kultur. Sie können gar nicht anders, sie müssen zusammenleben.
Autor: Peter Schreiber, ARD-Studio Nairobi
Stand: 13.11.2015 11:25 Uhr
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