So., 28.09.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ukraine: "Neues Russland" - Traum und Schrecken
Ein orthodoxer Gottesdienst in Donezk: Die Besucher beten für den Frieden und für ihren Traum von einem neuen Land - Neurussland. Ihre Großältern kamen im Zuge der sozialistischen Industrialisierung aus Russland nach Donezk, um in den Zechen zu arbeiten. Daher leben hier bis heute so viele Russen.
Die Kirche gehört bis heute zum Patriarchat Moskau. Der Priester bittet den russischen Patriarchen jeden Sonntag um Beistand. In diesen Zeiten ganz besonders. Moskau ist für diese kleine eingeschworen Gemeinde eine Art Schutzpatron.
"Wir wollen, dass es Neurussland gibt"
"Wir wollen, dass es Neurussland gibt, als anerkanntes Land, als vollständiges Land. Es wäre schön, wenn wir hier mit unserer eigenen Kultur leben könnten, mit unserer eigenen Geschichte und Religion. Wir wollen nicht, dass man uns fremde Werte aufzwingt", sagt eine auf der Straße. Eine andere fügt hinzu: "Die Willkür der Ukraine gegen unser Neurussland kann man doch mit dem normalen Menschenverstand nicht begreifen."
Wie viele hier machen sie die ukrainische Regierung für das Blutvergießen verantwortlich. In der Bergarbeitersiedlung träumen alle von Neurussland. "Wir werden der ukrainischen Regierung nie verzeihen, dass sie auf uns geschossen hat. Meine Hunde fassen Sie besser nicht an. Das sind Separatisten", sagt eine alte Dame lachend-
Glorifizierung der alten Sowjetunion
Seit seinem 17. Lebnensjahr arbeitet Alek in der Zeche. Der 37-Jährige verdient 4000 Griwna - rund 250 Euro monatlich. Er schimpft über die Oligarchen: "Wir wollen nicht mehr Kiew füttern mit unserer Steuern, wir wollen lieber, dass das Geld uns hier im Don Bass zugute kommt. Deshalb finde ich Neurussland besser. Wir wollen dass die Industrieregion Don Bass autonom wird, wie die Krim, mit eigenen Ministern und einem eigenen Präsidenten, wie auf der Krim."
Alek wünscht sich nichts sehnlicher, als eine erschwingliche Wohnung. Sowie früher in der Sowjetunion die Wohnung seines Opas. Jetzt frisst die Miete fast die Hälfte seines Gehalts. "In Russland leben die Leute viel besser als hier. Das weiß ich aus dem Fernsehen", erklärt Alek, der zuletzt in der 1980er-Jahren dort war - zu Zeiten der Sowjetunion.
Wie viele hier glorifiziert Alek die alte Sowjetunion und sehnt sich die heile Glitzerwelt Russlands herbei, die er aus dem Fernsehen kennt. Seine Frau ist Krankenschwester. Sie steht den neuen Machthabern skeptischer gegenüber, als ihr Mann. "Die Menschen sind deprimiert, zutiefst verunsichert. Keiner weiß, was ihn erwartet. Ich weiß nur, dass es mich traurig macht, dass man uns in der Ukraine für Banditen hält."
Am 2. November wird gewählt
Fest steht im Augenblick nur ein Wahltermin. Am 2. November soll in der selbsterannnten Donezker Volksrepublik ein eigenes Parlament und ein eigner Präsident gewählt werden. Und dafür laufen sich jetzt im Verwaltungsgebäude diverse Amtsanwärter warm. Einer von ihnen ist Wirtschaftsprofessor Igor Kostenok. Für ihn steht fest, dass das Assoziierungsabkommen mit Europa vernichtende Folgen für die Region hätte: "Wenn die Verträge, die Präsident Poroschenko ohne die Zustimmung der Führung von Donezk und Lugansk unterschrieben hat, hier umgesetzt würden, würde das zur Schliessung der Zechen und zum Zusammenbruch der gesamten Industrieregion führen."
Der Grund: Die Zechen entsprechen nicht europäischen Standards. Sie sind auf dem Stand, wie die im Ruhrgebiet der 1950er-Jahre. Früher waren sie ein Teil der alten, sowjetischen Industrieproduktion.
Die engen Beziehungen halten bis heute an. Im Augenblick hängt die selbsternannte Volksrepublik am Tropf von Russland.Moskau versorgt die Region mit Hilfsgütern.Nach den monatelangen Kämpfen kann sich in der Millionenmetropole Donezk kaum noch einer selbst verpflegen. Die meisten Alten hier haben seit Monaten keine Rente mehr bekommen.
Wenige Mutige bekennen sich zur Ukraine
In der Öffentlichkeit gibt es nur ein Thema: Neurussland. Es gibt nur wenige die anderer Meinung sind, und sich trauen, diese zu äußern: "Ich liebe die Ukraine, nicht Russland. Russland muss hier weg. Ich will kein Neues Russland ich will in der Ukraine leben, weil das meine Heimat ist. Ich bin zwar Russin, aber die Ukraine ist doch meine Heimat. Und ich liebe sie." Sie habe überhaupt kein Recht das zusagen, wird sie von anderen Passanten niedergeschrien. Die alte Dame meint, sie habe nichts mehr zu verlieren.
Viele andere dagegen, jüngere Menschen wagen es kaum sich in der Öffentlichkeit zur Ukraine zu bekennen. Die Drohgebärden sind zu groß. Früher war Donezk ein Sammelbecken für Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen. Jetzt scheinen fast alle Bewohner - bis auf ganz wenige - nur ein Ziel: Neurussland. Für eine Rückkehr zur Ukraine scheint es zu spät.
Autorin: Birgit Virnich, ARD-Studio Moskau
Stand: 29.09.2014 09:00 Uhr
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