Interview mit einer "Mutter des Tiananmen"
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 wurde der Sohn von Wu Jue, Wu Xiangdong, erschossen. Die Opfer des Massakers gelten seitens der Regierung als Gewalttäter und werden kriminalisiert. Selbst die Beerdigung von Wu Xiangdong musste heimlich geschehen. Unter der Verfolgung hatte seine Mutter ihr Leben lang zu leiden.
Sie ist Mitglied der "Mütter des Tiananmen", ein Zusammenschluss von Angehörigen der Opfer des Massakers. Das Gespräch hat unsere Korrespondentin Christine Adelhardt bereits vor Wochen geführt. Damals konnte sie Frau Wu noch besuchen. Heute steht die 75-Jährige unter strenger Polizeibeobachtung. Sie steht unter Hausarrest, Gespräche mit Journalisten werden unterbunden.
Bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen am 4. Juni 1989 während des so genannten Tiananmen-Massakers getötet wurden, aber ihr Sohn war einer von ihnen. Was geschah in jener Nacht?
Mein Sohn war so jung. Er hatte einen großen Sinn für Gerechtigkeit. Im Juni '89 arbeitete er in einer Fabrik. Dort hat er unter den Arbeitern dafür geworben, sich an den Studentenprotesten zu beteiligen. Er wollte gegen Korruption protestierten. Er war so naiv.
Am 3. Juni war er bis gegen fünf Uhr nachmittags auf dem Tiananmen. Dann kam er nach Hause. Gegen sieben gab das Staatsfernsehen bekannt, dass die Armee auf den Tiananmen vorrücken wird, alle sollten zu Hause bleiben. Da wussten wir: Das geht nicht gut aus. Ich habe ihn gebeten, daheim zu bleiben. Er sagte, er wolle seine Freundin nach Hause begleiten und würde gleich wieder kommen. Aber er kam nie mehr zurück.
Was geschah dann?
Mein Mann und ich haben nach ihm gesucht. Auf den Straßen war Chaos, Menschenmassen, Panzer, Armeelastwagen. Um 21 Uhr hörten wir die ersten Schüsse. Wir hatten Essen für ihn dabei. Wir hofften, er sei nur verletzt. Überall auf den Straßen wurden Verletze und Tote zu Krankenhäusern gebracht. Wir sahen Tote auf der Straße, die von den Panzern überrollt worden waren. Wir haben in den Krankenhäusern nach ihm gesucht. Dort hingen Listen aus, mit den Namen der Toten und Verletzten. Auf einer der Listen stand sein Name ganz oben. Seine Leiche lag auf dem Hof neben anderen Toten, darunter waren auch Kinder und Alte. Seine Brust war voller Blut und seine Augen noch halb geöffnet. Er lag da ruhig und friedlich. Ich habe mich auf ihn geschmissen, wollte ihn küssen und umarmen, aber sie haben mich von ihm weggezogen. Aber ich habe ihn wenigstens noch einmal berührt. Dann hat mein Mann ihm sanft die Augen zugedrückt.
Wissen Sie, wie er zu Tode kam?
Ein Freund von ihm hat mir später erzählt, dass mein Sohn zusammen mit anderen eine Menschenkette gebildet hat, um die Armee am Vorrücken zu hindern. Die Demonstranten haben sich geweigert, den Weg frei zumachen. Dann wurde das Feuer eröffnet und die, die in der ersten Reihe standen, wurden getroffen. Die dahinter Stehenden haben erst nicht begriffen, was passiert. Sie glaubten immer noch, das seien lediglich Gummigeschosse. Vielleicht stand mein Sohn in der ersten Reihe. Die Kugel hat ihn vorne getroffen, ist in seinem Herzen explodiert und am Rücken ausgetreten.
Nach seinem Tod habe ich in seinen Unterlagen sein Testament gefunden. Er schreibt darin, dass wir stolz auf ihn sein sollen, denn er ist für seine Überzeugung gestorben, dass jeder Bürger sich für sein Land engagieren muss, wenn die Nation ihn braucht.
Was geschah danach mit überlebenden Demonstranten und Familienangehörigen der Toten?
Wir wurden überwacht. Jede Nacht wurden Menschen einfach abgeholt. Wir haben uns nicht mal getraut, Licht anzumachen und hatten Angst sie würden kommen und meinen zweiten Sohn auch mitnehmen. Viele haben sich nicht gewagt zu sagen, dass ihre Kinder tot sind, sondern sagten, sie seien nur "verschwunden". Am Arbeitsplatz mussten wir an Selbstkritiksitzungen teilnehmen und aufschreiben, ob wir am Tiananmen waren und protestiert hatten. Viele meiner Nachbarn haben mich nicht mehr gegrüßt, weil ich jetzt die Mutter eines "gewalttätigen Kriminellen" war.
Pekinger durften nicht aus der Stadt raus. Menschen aus anderen Provinzen nicht in die Stadt rein. Die Telefonleitungen waren stillgelegt. Sie wollten verhindern, dass die Menschen erfahren, was wirklich geschehen war und ihr Verbrechen vertuschen.
Was hat das für Sie persönlich bedeutet in den letzten 25 Jahren?
Sie haben uns schlecht behandelt, uns überwacht, uns unserer Würde beraubt, Menschen verhaftet. Sie haben mir verboten, am Grab meines Sohnes zu trauern. Sie haben mich mit Gewalt in ein Polizeiauto gesteckt und nach Hause gebracht. Es gab Zeiten, da haben mich fünf, sechs Bewacher verfolgt, wenn ich nur zum Einkaufen ging. Es gilt einfach kein Gesetz in China.
Später haben sie sich der Gruppe "Mütter des Tiananmen" angeschlossen. Warum?
Zuerst wollte ich nur Gerechtigkeit für meinen Sohn. Aber dann ging es um mehr als nur Vergeltung. Es geht um Humanität, um Menschenrechte und Demokratie. Wir müssen nicht den Tod der Verantwortlichen fordern oder Deng Xiaoping (Deng war damals Vorsitzender der Militärkommission, Anm. d. Red.) aus seinem Grab zerren. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die ganze Welt die Wahrheit erfährt, dass es eine blutige und schreckliche Unterdrückung war.
Warum geben Sie immer wieder Interviews, obwohl Sie von der Polizei unter Druck gesetzt werden und damit ein großes Risiko eingehen?
Zuallererst weil ich meinen Sohn liebe. Er war unbewaffnet und wurde von der chinesischen Armee brutal getötet. Ich wollte danach selbst nicht mehr leben und hatte nichts zu verlieren. 25 Jahre sind seither vergangenen. Mein Land leidet seit langer Zeit unter der Herrschaft einer Diktatur, die vor dem eignen Volk und vor der Welt ihre Verbrechen verschleiern will. Um der Gerechtigkeit willen, damit die Wahrheit bekannt wird und weil ich meinen Sohn liebe, deswegen spreche ich.
Seit vielen Jahren schreiben die "Mütter des Tiananmen" jedes Jahr einen Brief, in dem sie Regierung auffordern, die Geschichte aufzuarbeiten. Sie haben nie Antwort erhalten. Wie es scheint, hofft die Kommunistische Partei darauf, dass der 4. Juni 1989 vergessen wird. Haben sie dennoch Hoffnung, dass sich das einmal ändern wird?
Ja, ich habe Hoffnung, denn es geht um Gerechtigkeit und am Ende siegt immer die Gerechtigkeit. Auch wenn die ältere Generation schon gestorben ist und auch meine Generation bald sterben wird. Unsere Kinder und Freunde erinnern sich noch daran. Und die nächste Generation wächst schon ganz anders auf. Sie haben Unterstützung von allen überall auf der Welt, sie studieren, kommen herum. Geschichte kann man nicht vertuschen. Niemand kann das. Die Regierung kann den Lauf der Welt nicht aufhalten.
Warum ist der 4. Juni in China immer noch ein Tabu? Warum darf niemand darüber sprechen?
Aus Angst. Sie haben vor allem Angst, denn sie wissen, dass sie im Unrecht sind. Ich hoffe, dass dieses Jahr Regierungen anderer Länder – auch Bundeskanzlerin Merkel – uns "Mütter des Tiananmen" unterstützen werden. Dass Frau Merkel Xi Jinping überzeugen kann, sich der Geschichte zu stellen und dieses schreckliche Kapitel der chinesischen Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ich jedenfalls werde bis zu meinem Tod dafür kämpfen.
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