So., 20.07.14 | 19:20 Uhr
USA: Keine Gnade - Greise hinter Gittern
Stärke zeigen, Zeit totschlagen. Die martialische Muskelmänner im Gefängnishof in Denver entsprechen den klassischen Knastklischee der schweren Jungs. Doch in vielen US-Strafanstalten bestimmen inzwischen Greise hinter Gittern das Bild. Amerikas Gefängnisbevölkerung ist alt geworden, sehr alt. Rollstühle und Rollatoren: Manches Zuchthaus wirkt wie ein Seniorenheim. Allein in Colorado hat sich die Zahl der Insassen über 65 Jahren in 20 Jahren versiebenfacht.
Gefängnis mit Dialyse
Elmar Marsh muss wegen eines Sexualdelikts mehr als 40 Jahre absitzen. Er kam mit 42 Jahren, nun ist er 69 und schwer nierenkrank. Der Langzeithäftling wurde hierher verlegt, weil dieses Gefängnis auf Dialyse eingestellt ist. Er erzählt: "Da musst du drei Mal pro Woche hin und je länger du das machst, desto mehr laugt es dich aus. Es ist ermüdend. Nach jeder Dialyse ist der Tag versaut - und ich muss das machen bis zu meinem Lebensende."
Es gibt Dutzende Dialyse-Insassen hier. Gebrechliche Gefangene, die kaum noch die Treppen schaffen. Viele werden hinter Gittern sterben, dann wird der Knast zum Hospiz. Der Gefangene Samuel Bradford meint: "Wenn du raufgehst in die Krankenstation, da siehst du wesentlich ältere und hinfälligere Häftlinge als uns. Und die haben nicht vor, sie zu entlassen. Auch diese Insassen werden immer als Bedrohung der Gesellschaft gelten."
Vom Vergewaltiger zum Pfleger
Lewis Erskine hilft den Gefängnisärzten. Er bekam lebenslänglich, nun pflegt er Gefangene in ihren vielleicht letzten Monaten auf dieser Endstation. Heute kümmert sich Lewis um einen todkranken Mörder. David Marlena ist 72 Jahre alt und seit 1990 im Gefängnis. Er kann sich nicht mehr selbst anziehen oder waschen und nuschelt kaum verständliches Spanisch - ein echter Pflegefall.
Lewis Erskine: "Unser Justizsystem möchte keine Straftäter entlassen. Die halten uns lieber so lange wie möglich gefangen, wir sind bares Geld wert! Das ist meine Meinung."
Eine Frage des Geldes?
Gefangene wie David sind vermutlich auch deshalb noch hinter Gittern, weil viele US-Haftanstalten privatisiert wurden. Konzerne kassieren dafür vom Staat - jeder Häftling maximiert den Gewinn. Colorados Justiz sieht keinen Anlass, das System zu ändern. Auch, weil sie weiß, dass es manchen der kranken Alten in Haft besser geht als in Freiheit.
Die Pressesprecherin der Justizbehörde Colorado, Adrienne L. Jacobson, meint: "Wenn Sie drei Mal pro Woche zur Dialyse müssen, womöglich mit Bus oder Bahn, dazu all die Medikamente - das ist eine finanzielle Belastung. Zusätzlich zum Druck, einen Job finden zu müssen. Es gab Insassen, die deshalb ihre Bewährung abgelehnt haben."
Keine Gnade für Verbrecher
Lange Haftstrafen selbst für Kleinkriminelle. Amerikas Bestrafungskultur hält nichts von vorzeitigen Entlassungen. So mußte James Taylor 83 Jahre alt werden, bevor er die Wachtürme hinter sich ließ und wieder raus durfte, jenseits des Stacheldrahts. James Taylor: "Anfangs hätte ich nie gedacht, dass ich hinter Gittern sterben könnte. Aber mit den Jahren habe ich schon gehofft, dass meine letzte Ruhestätte anderswo sein möge."
Seine ersten Schritte in Freiheit machte James bei der Suche nach Arbeit, aber wer stellt schon einen Mitte 80-Jährigen ein, der wegen versuchten Totschlags fast drei Jahrzehnte gesessen hat? Eine kleine Kosmetikfirma gab dem studierten Ex-Knacki dann doch eine Chance. Er füllt Shampooflaschen ab, sechs Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Für seine Arbeit bekommt James kleines Geld und großen Respekt. Ein Kollegen, Joe Cooper, meint: "Wie der sich angepasst hat, irre! Ein toller Erfolg, dass er das geistig und körperlich geschafft hat!"
James hatte Glück und Verstand. Doch nur ganz wenige in Amerika schaffen das Comeback nach dem Knast und bezwingen ihre Dämonen. James Taylor: "Du darfst nicht ewig rumkauen auf deinem Frust und Selbstmitleid. Du bringst es zu nichts, wenn du dauernd rumjammerst."
Aktivisten gegen Amerikas Justizsystem
James genießt das Leben draußen in vollen Zügen, am liebsten mit Knastkumpel Curtis. Er hat 50 Jahre wegen Mordes gesessen, wurde zum Aktivisten gegen Amerikas drakonisches Justizsystem: "Früher hast du deine Haftstrafe abgebrummt und bist entlassen worden. Heute wirft dich jeder disziplinarische Eintrag eines Justizbeamten zurück. Und wir reden nicht über ein paar Tage extra Haft - das können Jahre sein."
Der Schwerverbrecher Curtis verliebte sich in die bürgerrechtsbewegte Dianne. Sie beklagt die Privatisierung und Profitgier der Gefängnisbranche und die Dominanz der Hardliner in den USA: "Unsere Politiker wollen wiedergewählt werden und nicht schwach wirken, sagen also lieber nicht öffentlich, dass wir zu viele Langzeitgefangene haben, die uns viel kosten, aber eher nicht mehr gefährlich sind. - Ich sehe nicht, wie sich diese Bestrafungskultur ändern könnte."
In Denvers Gefängnis dreht sich mehr um Kranke und Sterbende als um Resozialisierung. Immerhin: Sie bieten Computerkurse an, auch für all die hier in die Jahre gekommenen Schwerverbrecher, die wie Elmer Marsh auf Haftschonung oder Bewährung hoffen. Elmer Marsh: "Wenn ich entlassen werde, könnte ich sogar selbst Rechnungen schreiben, all sowas habe ich gelernt, seit ich hier bin."
Die USA leisten sich ein teures Justizsystem, die Steuerzahler müssen für rund 2,3 Millionen Häftlinge aufkommen. Besonders kostspielig ist die bewachte Behandlung der vielen chronisch kranken Lebenslänglichen, der Greise hinter Gittern. Amerikas Gefängnisse stellen sich auf immer mehr alte Gefangene ein, weil die Gesellschaft selbst Gebrechliche als Gefahr fürchtet.
Autor: Stefan Niemann, ARD-Studio Washington
Stand: 01.09.2014 10:21 Uhr
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