Mo., 13.03.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Niederlande: Rechtsruck trotz wirtschaftlichem Aufschwung?
Arie und Harma Kempinga leben in Westholland. Er arbeitet als Taxifahrer, sie in Teilzeit als Briefträgerin. Sie haben drei Kinder. Durch einen Fehler der Steuerbehörde – nicht durch eigenes Verschulden – haben sich bei ihnen Schulden aufgehäuft. Sie sind total enttäuscht von der jetzigen Regierung, die, so sagen sie, nie etwas für Familien wie ihre etwas getan habe.
Im Gegenteil, die Preise für Wohnen und Lebensmittel steigen, durch die Gesundheitsreform müssen sie jetzt auch viel mehr zu Medikamenten etc. dazu zahlen, doch ihre Löhne sind kaum gestiegen. So können sie ihre Schulden nicht abbezahlen.Von den etablierten Parteien wenden sie sich ab. Bei der anstehenden Parlamentswahl werden sie entweder für die Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders stimmen – aus Protest gegen "die da oben". Oder sie werden erst gar nicht wählen gehen. Die Niederlande stehen vor einer richtungsentscheidenden Wahl.
Ein Film von Bettina Scharkus (ARD-Studio Brüssel)
Sie trägt Briefe aus für ein paar Euro die Stunde. Immerhin: Harma Kempinga hat Arbeit. Von Politik hat die Postbotin die Nase voll, für die bürgerliche Regierung will sie auf keinen Fall stimmen. Deren Arbeit sei gar nicht gut gewesen. "Mein Gefühl ist Nein, sie tun nicht genug für uns. Die Regierung müßte dem Volk mehr übriglassen und weniger Steuern und Abgaben verlangen. Wenn du ein bisschen weniger Abgaben hast, bleibt mehr übrig, und dann hast du auch nicht mehr diese Kluft zwischen Reich und Arm."
Flüchtlinge als Sündenböcke
Wie so viele Holländer weiß Harma noch nicht genau, wo sie am Mittwoch ihr Kreuzchen macht, vielleicht bei Geert Wilders. Das würde die Rechtspopulisten freuen. Gezielt wirbt die PVV um die Bürger, die die rigide Sparpolitik der letzten fünf Jahre besonders getroffen hat. "Die Armut ist schlimm", meint der PVV-Aktivist Donny Bonsink, "Es gibt immer mehr Gratis-Tafeln. Menschen müssen von sehr wenig Geld leben. Dagegen wird Flüchtlingen mit Allem geholfen. Also, wir haben viele Probleme hier." Flüchtlinge als Sündenbocke. Wilders polarisiert. "Stimmen Sie auch für Geert?" "Ich? Nein, nie im Leben. Ich werde gegen ihn kämpfen." "Einen schönen Nachmittag noch."
Harma Kempinga hat drei Kinder. Die Miete für das kleine Haus steigt, die Zuzahlungen für den Arztbesuch auch, doch der Lohn steigt nicht. 29.000 Euro Schulden drücken. Die Kinder brauchen eigentlich eine Zahnspange, zu teuer, der letzte Urlaub ist vier Jahre her. "Das ist total nervig! Nach den Sommerferien, in denen eigentlich jeder im Urlaub war, sage ich, ach, ich war einfach zu Hause, das ist nicht schön", erzählt Sylvana Kempinga. Arie Kempinga arbeitet Vollzeit als Taxifahrer für 1.700 Euro netto im Monat, das Geld reicht hinten und vorn nicht. Wilders Ausländerhetze findet Arie nicht gut, vielleicht wählt er ihn aber trotzdem: aus Protest. "Wilders, der probiert schon auf die Leute zuzugehen. Ich finde auch, dass in den Niederlanden mal etwas passieren muss. Dafür ist Wilders der richtige Mann. Das Land muss einfach mal wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Aber Wilders hat auch negativen Seiten. Positive, negative."
Andrang bei den Lebensmitteltafeln
Trotz guter Wirtschaftsdaten steigt in den Niederlanden die Langzeitarmut. Pfarrer Jan Veldhuizen erlebt das täglich in seiner Schuldnerberatung. Von der Regierung erwarten seine Klienten nichts mehr. "Wir sprechen stundenlang mit diesen Menschen. Und die sind so böse, wirklich so unglaublich böse." "Auf die Politik?" "Auf die Politik, ja. Die sagen, die haben uns vergessen. Der einzige, der in Holland das sagt, was wir denken, ist der Geert Wilders."
Harma Kempinga und ihre Familie gehören zu den "working poor", den arbeitenden Armen, die von ihren Jobs nicht mehr leben können. Sie ist nicht die einzige. Andrang bei der Lebensmitteltafel im Winschoten. Ganz normale Familien sieht man hier, einmal in der Woche warten sie geduldig, bekommen kostenlos Brot, Gemüse, Konserven. "Du musst dich anmelden", sagt Harma Kempinga, "und dann kommen die Leute von der Tafel bei dir zuhause vorbei und machen so eine Art Screening. Sie schauen sich an, wie deine finanzielle Lage ist, ob du einen Anspruch hast."
Die soziale Kluft wird größer
Und immer mehr Menschen haben Anspruch auf Unterstützung. In den unteren Gehaltsklassen verdienen die Niederländer heute weniger als vor zwei Jahren, in den oberen Gehaltsklassen mehr. Die Kluft wird größer, das merken die Sozialarbeiter hier. "Wenn die reichen Menschen über 80% vom Gesamtvermögen haben, bleiben den Armen nur die Schulden", meint Stina Koning, von der Tafel in Winschoten. "Also, das Durchschnittseinkommen der Niederländer ist hoch, eigentlich geht es dem Land gut, aber wenn man sich hier umschaut, sieht man doch ein anderes Bild."
"Es ist natürlich bekannt, dass es diese Tafel gibt, also ich schäme mich nicht mehr dafür", sagt Harma Kempinga. "Man muss sich hierfür auch nicht schämen. Fast jeder dritte hier ist doch arm, schätze ich." Mögen die offiziellen Wirtschaftsdaten auch gut sein, immer mehr Niederländer sitzen in der Armutsfalle. "Die Mittelschicht hat große Probleme, ist gewachsen, mit bei uns über 40% Zuwachs, wo Leute, mit zwei Einkommen, auf einmal fehlt ein Einkommen oder was immer auch" so Pfarrer Jan Veldhuizen. "Also diese Leute kommen zu uns, schlagartig kommen die zu uns. Es ist ein Schreckensbild, wenn wir das wirklich sehen. Könnt ihr euch vorstellen, wenn wir dort zuhause kommen, dass die Leute weinen, wo sollen sie denn hin?" Vielleicht zu Geert Wilders. Der hat zwar keine Lösungen, aber er verspricht, alles anders zu machen. Und anders muss es werden in den Niederlanden, meint Postbotin Harma. Sonst weiß sie bald nicht mehr, wie sie ihre Familie durchbringen soll.
Stand: 14.07.2019 03:18 Uhr
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