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Das Erste
Polen: Regierung diktiert den neuen Lehrplan
Seitdem die PIS-Regierung an der Macht ist, hat sich viel geändert in Polen. Ein deutlich nationalerer Ton bestimmt die Politik. Dazu gehören viele, teils sehr umstrittene Reformen. In der Justiz versucht die PIS-Regierung durch Umbesetzungen ihre Macht auszubauen. Deshalb läuft ein EU-Verfahren gegen Polen wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit. Im Land gibt es aber noch ein anderes Projekt, das die Gemüter erregt: Die Schulreform. Das Gymnasium fällt demnächst komplett weg und die Lehrinhalte ändern sich auch, wie Olaf Bock herausfand.
Sie sind frustriert und wütend. Deshalb sind diese Lehrer vor das Bildungsministerium gezogen. Die Gymnasien werden abgeschafft und die Lehrpläne verändert. Eine chaotische Reform, meinen sie hier. Die Ministerin weiß nicht, was in ihrem Ministerium läuft. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, ruft der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft in die Menge. Bis zu zehntausend Arbeitsplätze seien gefährdet.
Enttäuscht von der Politik
Mit dabei ist auch Ewa Korulska mit ihren Kolleginnen. Die Direktorin des Startowa-Gymnasiums ist enttäuscht von der Politik: "Diese Reform wird in hektischer Eile eingeführt und das bedeutet in jeder Hinsicht einen Rückschritt."
Sie lädt uns ein in ihre Warschauer Schule, damit wir uns das ganze selbst einmal anschauen können. Der erste Tag nach zwei Monaten Sommerferien. Ewa Korulska unterrichtet heute Literatur. Nachdem sie die neuen Lehrpläne gelesen hatte, war sie richtig sauer. Einiges wird gar nicht mehr oder erst viel später gelehrt.
Ewa Korulska, Direktorin Startowa Gymnasium: "Vor allem in der fünften bis achten Klasse sind die Weltklassiker der Literatur rausgefallen. Geblieben ist ausschließlich die alte polnische Literatur, die keine aktuellen Themen behandelt. Für mich ist es empörend, dass es jetzt keinen Shakespeare mehr gibt, Antigone ist auch rausgefallen, dafür blieb der Nationaldichter Mickiewicz mit 'Pan Tadeusz'. Den in jungen Jahren komplett zu lesen, macht doch keinen Sinn."
Rausgeflogen aus dem Lehrplan seien Klassiker, die eine Diskussion über Gehorsamkeit und moralische Konflikte provozieren würden, meint sie. Stattdessen gäbe es mehr polnische Literatur.
Propagiert wird nur der Patriotismus, aber als Kriegspatriotismus, was ich für sehr schlecht halte. Wenn man von Patriotismus spricht, dann nur in dem Kontext, dass man sein Leben für das Vaterland opfert."
Abschaffung der Gymnasialklassen
Nebenan im Geschichtsunterricht sieht es nicht viel anders aus. Die historischen Daten Polens, vor allem die großen, ruhmreichen Momente würden jetzt stärker betont, sagt Rafal Derda. Andere Inhalte träten in den Hintergrund.
"Lech Wałęsa wurde von der Protestikone der Veränderungen zu einem gewöhnlichen Solidarność-Mitglied. Okay, viele Leute in Polen würden das so sehen. Es wundert mich nur, dass man ihn aus dieser Rolle der Ikone herausholt. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass er auch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde."
Viele der neuen Bücher sind hier noch nicht angekommen. Und die drei Jahre dauernden Gymnasialklassen an dieser Schule sind ein Auslaufmodell. Jetzt geht es direkt von der Grundschule zur Oberschule.
Franek, 13 Jahre: "Ältere Mitschüler erzählen mir, dass es im Gymnasium cool ist und sie empfinden Mitleid für mich, dass ich jetzt einfach nur in die siebte und achte Klasse einer Grundschule gehen muss und nicht mehr auf das Gymnasium."
Pause in der Kantine. Den ersten Schultag verdauen. Viele Schüler sind verunsichert, was da jetzt alles auf sie zukommt. Im Lehrerzimmer ist die Reform das Top-Thema.
Rückschritt statt Reform
Ewa Korulska, Direktorin Startowa Gymnasium: "Das Schulprogramm ist nationalistisch oder sogar fremdenfeindlich, und verschlossen im Blick auf andere Kulturen. Eben eine Rückkehr zu den traditionellen Werten. Ich kann das nicht beurteilen, aber es ist doch nicht möglich, die Geschichte zurückzudrehen."
Die zuständige Bildungsministerin sieht das ganz anders. Sie lobt die Vorzüge der Reform: Sie verspricht mehr Computer, Internet und Fremdsprachen. Patriotismus und mehr über Polen zu lernen, sei doch nur gut.
Anna Zalewska, Bildungsminsterin Polen: "Alles ist doch ausgewogen. In die polnischen Lehrpläne wurde wieder mehr Geschichte aufgenommen. Wir sind der Auffassung, dass man die Zukunft eines Staates ohne die Kenntnisse der Geschichte nicht aufbauen kann. Den Patriotismus, unter anderem den wirtschaftlichen Patriotismus, können wir von Deutschland lernen. Wir wissen, wie sie für ihre Wirtschaft sorgen, sie bewerben und stolz darauf sind."
Die neue Schulreform. Ewa Korulska macht sich große Sorgen um die Zukunft: "Wir müssen uns später mit einer fehlgeschlagenen Bildungspolitik herumärgern, das ist keine vernünftige Reform."
Die Lehrer planen neue Proteste. Für viele von ihnen ist die Schulreform kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt.
Autor: Olaf Bock/ARD Studio Warschau
Stand: 03.08.2019 14:11 Uhr
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