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Russland: Flucht zum Feind

Russland: Flucht zum Feind | Bild: AP

Bettwäsche bügeln, so viel sie schafft. Anna macht das auf Vorrat. Wer weiß, wann die nächsten Gäste kommen. Und wie viele. Planen kann Anna nicht. Denn ihre Gäste kommen aus der Ukraine, meist ohne Ankündigung. Wer auf der Flucht ist, hat keinen Reiseplan. 18 Leute kann sie aufnehmen in ihrem Hostel. "So sieht es aus hier – die Leute haben ja alle viel Gepäck dabei. Hier im Zimmer sind zehn, alle Plätze sind belegt", erzählt sie.

Flucht ins Land des Angreifers

Anna hat vorher alle Gäste gefragt. Wir dürfen hier filmen, aber Interviews – lieber nicht. Das Hostel liegt in einem Hinterhof von Sankt Petersburg, mitten im schönen Stadtzentrum. Aber, wer hier unterkommt, bleibt nicht lang. Alle sind auf der Durchreise, wollen so schnell wie möglich weiter, in die EU. Weg aus Russland, wo das, was sie erlebt haben, nicht mal Krieg heißen darf. Anna ist auch aus anderen Gründen vorsichtig mit dem "Thema", wie sie es nennt: "Ich rühre dieses Thema nicht an. Sie haben es hinter sich gelassen. Sie werden ein anders Leben haben, sie sollen sich in Ruhe vorbereiten können. Und an das Alte nicht mehr zurückdenken müssen."

Russland: Die Russin Anna betreibt ein Hostel für ukrainische Flüchtlinge in St-Petersburg
Russland: Die Russin Anna betreibt ein Hostel für ukrainische Flüchtlinge in St-Petersburg | Bild: WDR

Auch Aleksandr will hier im Hostel nicht darüber reden. Er kommt aus einem Dorf bei Charkiw, an der Grenze zu Russland. Als der Ort beschossen wurde, ließ die russische Armee Zivilist:innen nur in eine Richtung raus: nach Russland. Aleksander ist mit Mutter und der alten Großmutter geflohen, mit seinem Bruder, der Schwägerin, zwei Neffen. Die Oma ist gestorben auf der Flucht, sie mussten sie im russischen Woronesch beerdigen.

Dorthin hatte man die Familie geschickt. Sie haben uns nicht schlecht behandelt, sagt Aleksandr, sie haben uns Essen gegeben und Kleidung. Aber in Russland bleiben, das komme nicht in Frage: "Manchmal träume ich dass wir wieder alle im Keller sitzen, die ganze Familie. Wir sind unter Beschuss und ein Geschoss fliegt wieder in unser Haus. Das habe ich bis heute, diese Angst. Dazu kommt: In Woronesch haben sie uns in der Nähe eines Flugfelds untergebracht, da starteten jeden Tag die Kampfflieger – und es war doch klar, wohin. Moralisch ist es sehr schwer, jetzt hier zu sein."

Nur wenige trauen sich etwas zu sagen

Es gibt viele solcher Schicksale, sagt der Priester Vater Grigorij. Er organisiert in St. Petersburg Hilfe für Flüchtlinge, die nicht in Russland bleiben wollen. Sein Telefon steht nicht still. Wer raus will, landet irgendwann in unserer Stadt, sagt er – denn von hier ist man schnell in Europa.

Termin in einer Privatklinik. Grigorij hat ausgehandelt, dass sie hier demnächst Geflüchtete behandeln – fast kostenlos. Fehlt nur der Stempel unter dem Vertrag. Auch der Chefarzt formuliert vorsichtig. Wir verstehen doch alle genau, was los ist, sagt er: "Ich will das hier nicht als Heldentat darstellen. Wir helfen Menschen in Not, fertig."

Russland: Priester Vater Grigorij organisiert Hilfe für Flüchtlinge, die nicht in Russland bleiben wollen
Russland: Priester Vater Grigorij organisiert Hilfe für Flüchtlinge, die nicht in Russland bleiben wollen | Bild: WDR

Vater Grigorij, Erzbischof der unabhängigen apostolisch-orthodoxen Kirche, hat vor nichts Angst. Sein Chef sei der im Himmel, für ihn gälten nur dessen Regeln. Grigorij nennt die Dinge beim Namen. "Ein Land hat einen Angriff auf ein anderes Land verübt. Natürlich. Und es macht es eher noch schlimmer, dass alle dieselbe Sprache sprechen", sagt er. Es stimme nicht, dass Russland Menschen hier unter Zwang festhalte. Aber, nach der Flucht seien manche so verwirrt, dass sie zu allem Ja sagten. Und zustimmten, wenn man Ihnen Arbeit und Unterkunft weit weg anbiete – etwa in Wladiwostok am Pazifik. "Manche waren noch nie im Ausland. Der Geographieunterricht ist lange vergessen. Wo dieses Wladiwostok genau liegt, dass es tausende Kilometer weit weg ist, ist manchen gar nicht klar. Man sagt ihnen: Das Klima ist da wie bei euch. Also fahren sie. Und erst, wenn sie da sind, verstehen sie ihre Situation. Und dass sie da wieder weg müssen", erzählt der Priester.

Eine Reise ins Ungewisse

Aleksandr und Familie reisen ab. Einer der Neffen ist schwerbehindert, den Rollstuhl mussten sie auf der Flucht zurücklassen. Freiwillige fahren sie zum Busbahnhof. Die Familie hat Tickets ins estnische Tallinn – von dort geht es weiter mit der Fähre nach Helsinki. Zu sechst sind sie. Über Finnland wissen sie nicht viel. Eine Reise ins Ungewisse. "Diese Ungewissheit, die Unklarheit, ein bisschen mulmig ist mir. Das ist noch weiter weg von zuhause, viel weiter. Das lastet auf der Seele", sagt Aleksandr.

370 Kilometer sind es bis nach Tallinn – eigentlich eine Fahrt von vier, fünf Stunden. Doch wegen der Grenzkontrollen dauert es oft sehr viel länger. In Annas Hostel warten die Nächsten auf die Weiterreise. Dmitrij und Andschelika kommen aus dem Donbas. Und wollen nach Deutschland. Ihre Söhne sind 14 und zehn: "Zu gehen ist keine einfache Entscheidung. Und dann in ein Land, in dem man deine Sprache nicht versteht – das wird nicht leicht. Wir machen das nicht so sehr für uns, sondern für unsere Kinder." "Das bleibt das ganze Leben im Gedächtnis. Ich möchte, dass die Kinder sich beruhigen, dass die Nerven sich beruhigen. Sie haben so oft nachts geweint, wenn es wieder heftigen Beschuss gab", erzählt Andschelika. Vater Grigorij finanziert die Fluchthilfe über Spenden. Er sieht sich als Vertreter seines Landes, des anderen Russlands. "Wie kommen wir als Gesellschaft da je wieder raus? Sagen wir weiter, dass sie Faschisten sind? Auch die Kinder sind Faschisten? Auch das zwei Monate alte Mädchen in Odessa? So ein Unsinn."

Nachts um zwei ist Aleksandrs Familie endlich in Tallinn. Vier Stunden an der russischen Grenze, sechs an der estnischen. Aber, sie sind da. Und so erleichtert. "Gottseidank, alles hat geklappt. Ohne Probleme", sagt Aleksandr. Am nächsten Morgen schon geht es weiter nach Helsinki. Hoffentlich nicht für lange, sagt Aleksandr. Sobald es geht, will er zurück. Und das Haus der Familie wieder aufbauen.

Autorin: Ina Ruck/ARD Studio Moskau

Stand: 23.05.2022 15:21 Uhr

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