So., 06.09.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Russland: Die Gift-Methode
Wladimir Kara-Mursa hat schon zwei Giftanschläge auf sich überlebt. ARD-Korrespondentin Ina Ruck hat ein exklusives Interview mit ihm geführt, und wirft ein Licht auf die russische Methode, Regimekritiker einzuschüchtern. Eine Methode, die den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny fast das Leben gekostet hätte. Er liegt abgeschirmt von der Öffentlichkeit in der Berliner Charité, liegt im künstlichen Koma und wird beatmet. Seine Organisation, die Antikorruptions-Stiftung in Moskau, arbeitet weiter auf Hochtouren. Einschüchtern bringe nichts mehr, sagt Nawalnys engste Mitstreiterin, die wollen ja, dass wir aufgeben. Wir arbeiten so lange wir noch können.
Der Giftanschlag auf Nawalny: kein Einzelfall
"Hallo, hier ist Nawalny. Ihr habt es schon gemerkt, ich bin in Tomsk. Vergesst nicht, bald sind Regionalwahlen. Zwei Kandidaten sind hier bei mir: Xenia Fadeewa und Andrej Fateew. Sie brauchen eure Stimmen, damit wir gemeinsam die Leute von der Kremlpartei schlagen." Das war sein letzter Auftritt – Alexej Nawalny meldete sich aus dem sibirischen Tomsk. Der Rest erzählt sich in Handyfotos. Am Tomsker Flughafen trinkt er Tee vor dem Rückflug nach Moskau, jemand fotografiert sich mit ihm am Check-In, andere machen ein Selfie im Zubringerbus. Dann die Handyvideos aus dem Flugzeug: Nawalny schreit vor Schmerzen, die Maschine landet außerplanmäßig im nahegelegenen Omsk, der Patient wird abtransportiert. Und liegt seitdem im Koma.
"Für mich war das ein furchtbares Déjà-vu, als ich davon hörte. Ich wusste sofort: die Symptome sind exakt dieselben wie bei meinen beiden Vergiftungen, 2015 und 2017", erzählt Wladimir Kara-Mursa. Auch er ein russischer Oppositioneller, hat zwei Anschläge überlebt. Beide Male, sagt er, gab man ihm eine Chance von fünf Prozent. Ermittelt wurde nie. Er ist sicher, dass die Taten, auch jetzt bei Nawalny, von höchster Stelle gedeckt werden – oder sogar beauftragt wurden. "Hören Sie, das sind streng kontrollierte Substanzen! Hoch toxische Nervengifte, die kauft man doch nicht in der Apotheke oder auf dem Markt. Den Zugang, das steht außer Zweifel, haben nur die russischen Geheimdienste"
Im Provinzkrankenhaus von Omsk retten die Ärzte Nawalnys Leben. Einer von ihnen, der nicht genannt sein will, sagt uns später, dass man aufgrund der Symptome früh eine Vergiftung für sehr wahrscheinlich hält. Öffentlich diagnostizieren die Ärzte etwas anderes: eine Stoffwechselstörung. Jetzt, nachdem Berlin von Nowitschok spricht, fordert seinerseits Russland Außenminister Beweise: "Allein der Ton, den unsere westlichen Partner sich uns gegenüber erlauben, lässt darauf schließen, dass sie außer künstlichem Pathos in Wahrheit wenig an Beweisen in der Hand haben", so der russische Außenminister Sergej Lawrow.
Nawalnys Mitstreiter geben nicht auf
Nawalnys YouTube-Sendung moderiert jetzt Ljubow Sobol, seine engste Mitstreiterin. Nawalny liege im Koma, sagt sie. Aber sein Team werde herausfinden, was in Omsk passiert ist. Denn es gebe eine Zeugin. "Vor zwei Wochen haben wir ein Video gezeigt, da stand unser Kollege in Omsk vor dem Krankenhaus und erzählte. Er hatte etwas aufgeschnappt im Zimmer des Chefarztes. Schaut euch das nochmal an, das ist wichtig": "Wir haben gerade gehört, wie eine Polizistin dem Chefarzt sagte, man habe eine hochgiftige Substanz gefunden", sagt Nawalnys Mitstreiter Iwan Schdanow. "Wir haben sie sofort danach gefragt, aber sie sagte: das ist Ermittlungsgeheimnis. Aber die Substanz sei hochgefährlich auch für andere, die Ärzte müssten Schutzkleidung tragen." Wenn die Aussage stimmt, war die Polizistin tatsächlich die einzige, die je von Gift gesprochen hat.
Im Moskauer Büro von Nawalnys NGO wissen sie, wie gefährlich Recherche sein kann. Erst recht, wenn es um Korruption hoher Beamter geht. Es gibt immer wieder Drohungen, Überfälle, polizeiliche Durchsuchungen – wie hier im vergangenen Dezember. Ljubow Sobol selbst hat über einen Vertrauten Putins recherchiert, wurde verklagt wegen Verleumdung. Der Mann hat nun angekündigt, er werde sie und Nawalny ruinieren. Sie will dennoch weitermachen. "Selbst wenn ich jetzt emigrieren würde und irgendwo anders als Juristin arbeiten – das ändert nichts. Diese Leute werden sich überall rächen, wenn sie das wollen. Den "point of no return" habe ich längst überschritten, zurück kann ich gar nicht mehr."
Auch Wladimir Kara-Mursa denkt nicht ans Aufhören. Irgendwann, sagt er, wird alles ans Licht kommen. "Nach jedem dieser Giftanschläge beginnt sofort die koordinierte Desinformationskampagne – die Leute hätten zu viel getrunken, etwas Verdorbenes gegessen, Pillen genommen. Aber die Wahrheit wird herauskommen, spätestens, wenn Putin geht. Auch sein Regime ist endlich." Aus Omsk heißt es jetzt, nach neuesten Erkenntnissen habe Nawalny wohl abnehmen wollen und offenbar die Diät nicht vertragen. Auch sonst bleibt Russland bei seiner Version: die Labore hätten kein Gift gefunden.
Autorin: Ina Ruck, ARD-Studio Moskau
Stand: 06.09.2020 21:49 Uhr
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