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Russland/Finnland/Türkei: Flucht vor dem Kriegseinsatz

Russland/Finnland/Türkei: Flucht vor dem Kriegseinsatz | Bild: picture alliance/dpa | Ergin Hava

Der Business-Trip war schon länger geplant, und Sasha – so nennen wir ihn – war bereits auf dem Weg. Kurz nach der Landung in der Türkei verkündete Wladimir Putin die Teilmobilmachung. Für Sasha war schnell klar: Er bleibt. Drei Monate darf er das, mit seinem Touristenvisum. Wie ihm geht es vielen Russen, die das Geld für eine Reise in die Türkei haben. Und manche sprechen über die Lage in Russland. Nicht ganz frei, denn die meisten haben Familie in Russland und möchten auch irgendwann wieder zurückkehren. Was wird werden? Was glauben sie was Putin vorhat?

Türkei: Die Familie bleibt in Russland

Er ist Russe im wehrfähigen Alter, gerade eben auf dem Flughafen Istanbul gelandet und bereit mit uns zu sprechen, solange er anonym bleiben kann. Er sagt, er heiße Alexsander. Nach Russland will er erst mal nicht zurück. Deserteuren drohen dort lange Haftstrafen. "Eigentlich bin ich Patriot. Ich liebe mein Land und würde es auch verteidigen. Aber ich denke nicht, dass wir derzeit in einer Situation sind, in der unser Land verteidigt werden muss." Alexander ist 35 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Familie ist in Russland geblieben. Er hat geschäftlich in Istanbul zu tun und entschieden, in der Türkei zu bleiben, solange in der Heimat Männer an die Waffe gerufen werden. "Ich bin etwas nervös. Ich bin weit weg von zuhause und ich weiß nicht, was die Zukunft bringt."

Mann schaut auf Skyline von Istanbul
Alexander will nicht nach Russland zurück  | Bild: SWR

Alexander hat sich ein Hotelzimmer in der Innenstadt genommen. Er hat etwas Bargeld mitgebracht. Aber wenn das ausgegeben ist, muss er irgendwoher Geld bekommen. Eigentlich sind Automaten in der Türkei mit dem russischen Zahlungssystem "Mir" verbunden. Doch es kommt kein Geld raus, denn seit wenigen Tagen haben alle türkischen Banken die Zusammenarbeit mit Mir ausgesetzt. Den Banken drohen sonst Sanktionen aus dem Westen. "Ich kann wohl nur noch über Geldtransfers an Bares kommen. Über normale Banken bekomme ich nichts mehr." Morgen muss er erst mal klären, wie es weiter geht.

Türkei: Aussicht auf Rückkehr schwindet

Wir treffen Alexander zwei Tage später. Bisher hatte er Arbeit, aber die sei jetzt abgeschlossen sagt er. So schön Istanbul auch ist, genießen kann er es nicht, hier zu sein. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Mobilmachung beschäftigen ihn Tag und Nacht. Und auch die zehnjährige Haftstrafe, die ihm als Deserteur droht oder die noch längere Haft, wenn man Putins Krieg kritisiert. "Selbst wenn man hier mein Gesicht nicht sieht, ist es immer noch gefährlich für mich das zu sagen, was ich jetzt sage. Aber ich sehe es so. Ich unterstütze nichts, was bei unschuldigen Menschen Schmerz, Leid oder Verlust mit sich bringt."

Von anderen in Istanbul gestrandeten Russen hat Alexander erfahren, dass er über die Postbank Geld aus Russland in die Türkei schicken lassen kann. Er findet eine Postfiliale, die zwar schon geschlossen ist. Aber zumindest kennt er jetzt die Öffnungszeiten. Danach das allabendliche Telefonat mit Frau und Kindern. "Ich vermisse sie jeden Tag mehr und mehr, während die Lage immer trüber wird und jeden Tag schwindet die Zuversicht, dass ich zurückkehren kann. Ich vermisse sie." Alexander ist einer von Tausenden in der Türkei, die Russland den Rücken gekehrt haben und es werden täglich mehr.

Finnland: "Ich will nicht in diesen Krieg ziehen – das ist ein aggressiver Angriff!"

Die Flucht vor der Mobilmachung in Russland erleben sie auch in Finnland. Joris Vermeulen hat ein kleines Hostel unweit der finnisch-russischen Grenze. Der Herbst ist eigentlich eine laue Reisezeit hier. Doch alle seine Betten sind seit Tagen ausgebucht, erzählt er. Seine Gäste: allein reisende Männer aus Russland. "Früher sind die Russen gekommen, waren fröhlich und haben hier ihren Urlaub genossen. Aber jetzt sehe ich ihnen an, dass in ihrem Land etwas vorgeht. Sie wollen abhauen und das ist ja auch verständlich!"

Straßenschild mit kyrillischer und lateinischer Beschriftung
Nach der Teilmobilmachung in Russland stieg die Zahl der Einreisen stark an  | Bild: SWR

Wir treffen Viktor. So sollen wir ihn nennen. Der 41jährige ist bereit, uns von seiner Flucht zu erzählen. Auch er will unter keinen Umständen erkannt werden. Weil er Konsequenzen für Familie und Freunde fürchtet. Vor ein paar Tagen hat er es gerade noch über die Grenze geschafft. Und Glück gehabt mit dem finnischen Kontrolleur. "Er fragte: Du hast doch ganz bestimmt keinen Militärausweis, oder? Und ich habe geantwortet: Natürlich nicht. Aber selbstverständlich habe ich einen." Andere hatten nicht so viel Glück. Viktor sagt, dass russische Beamte einen Mann auf dem Weg von Russland nach Finnland aus dem Auto geholt und in einen Rekrutierungscontainer gebracht hätten – die Familie habe verzweifelt zugeschaut. "Ich will nicht in diesen Krieg ziehen. Denn wir verteidigen uns hier ja nicht. Sondern das ist ein aggressiver Angriff!"

Finnland: Das alte Leben wird zurückgelassen

Männer wie Viktor sind zu Tausenden mit einfachen Touristen-Visa über solche Grenzposten gekommen. Viele mussten über Stunden in der Autoschlange warten. Seit Freitag ist dieser Weg abgeschnitten. Finnland will die Russen nur noch in Ausnahmefällen passieren lassen und so den Druck innerhalb Russlands erhöhen. Deshalb ist auch Dimitri wohl einer der letzten, die es noch geschafft haben. Hals über Kopf lässt er sein altes Leben zurück. Seine Eltern und seine Freundin. Für ein paar Nächte ist er bei einer Bekannten untergekommen, die schon länger in Finnland lebt.
Eine Rückkehr nach Russland? Für Dimitri ausgeschlossen. "Es ist vielleicht zu naiv zu glauben, dass die Situation in Russland nur mit unserem Präsidenten zusammenhängt. Aber so etwas hatten wir schon einmal in unserer Geschichte – mit Stalin." Dimitri will weiterziehen. Am Abend bringt ihn seine Bekannte zum Bahnhof. Von dort will der junge Russe irgendwie versuchen, nach Deutschland zu kommen.

Autos vor Schranke an der Grenze
Die Grenze zu Finnland ist jetzt für viele Russen geschlossen  | Bild: SWR

Mit der Grenzschließung vor zwei Tagen ist es auch bei Joris Vermeulen ruhiger geworden. Die Schicksale der Männer berühren auch ihn, sagt er und trotzdem hält er die Entscheidung der finnischen Regierung für richtig. "Ich denke, es ist gut, die Grenze zu schließen. Weil es in Russland ein Problem gibt, und sie müssen es lösen. Wenn die Leute hierherkommen, können sie es nicht lösen. Das denke ich." Den Männern, die noch bei ihm sind, will er selbstverständlich helfen und wünscht ihnen Glück, fügt er hinzu. Mit neuen Gästen aus Russland rechnet er aber erstmal nicht mehr.

Autoren: Oliver Mayer-Rüth, Sofie Donges, Christian Blenker

Stand: 06.10.2022 13:55 Uhr

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