Mo., 14.01.19 | 04:50 Uhr
Das Erste
Schweiz: Alpendämmerung
Ein leichtes Spiel für einen Hydraulik-Raupenbagger. Nicht so für die letzte Bewohnerin, die heute Abschied von ihrem Elternhaus nehmen muss – im schweizerischen Bondo.
Ein Haus nicht alleine sterben lassen
"Wenn ich jetzt mein Haus anschaue, dass es so langsam stirbt, das macht mich schon traurig. Aber wir sind vorbereitet", so Elvira Salis, ehemalige Bewohnerin von Bondo. Es ist ein gewaltiger Bergsturz, der ihr Haus unbewohnbar macht. Im Sommer 2017 stürzen am Piz Cengalo drei Millionen Kubikmeter Felsen in die Tiefe. "Dann höre ich plötzlich einen so großen Lärm. Und dann schaute ich zum Berg hinauf und sah die großen Felsbrocken fallen. Es sah aus wie Lava, also ganz langsam, ohne Geräusch. Es war Eis und Wasser und Erde", erzählt Elvira Salis.
Die Überwachungskamera einer Schreinerei. Acht Wanderer sterben. Ein Teil von Bondo wird zerstört. Der Bergsturz: Auch eine Folge des Klimawandels. Seit dem Unglück lebt die 82-jährige bei ihrem Sohn in einem Nachbardorf. Sie zeigt uns Fotos von ihrem 345 Jahre alten Familienhaus. Ihr Großvater hatte es gekauft. Der Garten – immer schon ihre Leidenschaft.
"Am Anfang war ich sehr traurig, ich habe sehr viel geweint. Und ich war sehr froh, dass ich dabei sein konnte bei diesem Abbruch. Das ist wie bei den Menschen. Man lässt die Menschen nicht alleine sterben und ich wollte auch mein Haus nicht alleine sterben lassen", sagt Elvira Salis, ehem. Bewohnerin von Bondo.
Der Berg hat Fieber
Die Gefahr für die 200 Einwohner von Bondo ist noch nicht vorbei. Weitere drei Millionen Kubikmeter Geröll und Fels vom Piz Cengalo bedrohen das Dorf. Sie können jederzeit herabstürzen. "La montagna ha la febbre". Der Berg hat Fieber. Bergstürze wie in Bondo hat es immer gegeben, doch sie nehmen zu, sagen die Experten. Auf der Zugspitze in Deutschlands höchstgelegener Forschungsstation suchen Wissenschaftler nach einer Erklärung und glauben, sie gefunden zu haben: die immer größere Hitze in den Alpen.
Michael Krautblatter von der TU München hat vor zehn Jahren einen Stollen ins ehemals ewige Eis gegraben. Wissenschaft auf allen Vieren. Unzählige elektrische Sensoren durchleuchten die Zugspitze. Die hohen Temperaturen wie im Rekordsommer 2018 lassen nicht nur die Gletscher schmelzen, sondern auch die Berghänge tauen, die noch vor kurzem durchgängig gefroren waren, durch den sogenannten "Permafrost".
"Wir sehen seit Februar 2007, also jetzt seit einem Jahrzehnt, dass es jetzt schon deutlich zurückgeht. Einzelne kalte Winter können es noch ein wenig aufhalten, aber wir sehen eigentlich schon über die Jahre, dass es schwindet. Das Eis stabilisiert natürlich auch Schuttmassen und Felsen und in diesem kritischen Bereich, wo der Permafrost auftaut, muss man auch sehr genau hinschauen, dass es dort nicht zu Instabilitäten kommt", erzählt Michael Krautblatter, Permafrost-Experte.
Berge kommen ins Rutschen
Heute fliegt Krautblatters Team von Wissenschaftlern hinauf zu einer Stelle, die momentan als eine der interessantesten in den Alpen gilt. So klein ist der Landeplatz, dass der Hubschrauber gar nicht richtig aufsetzen darf. Der Hochvogel, 2600 Meter hoch, genau auf der Grenze zwischen Österreich und Deutschland, unweit von Oberstdorf. Direkt neben dem Gipfelkreuz hat sich seit 2014 ein Spalt rasant verbreitert. Jetzt gilt akute Felssturzgefahr, einer der beiden Anstiege ist für Wanderer bereits gesperrt worden. Von oben zeigt sich das ganze Ausmaß der Gefahr, mehrere Hunderttausend Tonnen Gestein drohen, ins Tal zu stürzen. Die Wissenschaftler haben beide Felsteile mit hochsensiblen Messgeräten verbunden und können auf den Millimeter genau ablesen, wie schnell der Spalt sich verbreitert.
"Die Felsmasse besteht aus sechs, sieben Teilen, die zusammen 260.000 Kubikmeter haben, das ist ganz schön viel. Es hat sich seit 2014, seit wir hier messen, um 30 Zentimeter bewegt, und zurzeit einige Millimeter im Monat. Die Deformationen sind so stark und ändern sich so kurzfristig, dass es sein kann, dass es nicht mehr lange dauert. Es kann sein, dass es dieses Jahr oder nächstes Jahr alles runterfliegt, das können wir nicht ausschließen", so Michael Krautblatter, Felssturz-Experte.
Die Berge kommen ins Rutschen, wenn der Permafrost sie nicht mehr zusammenhält. Die Alpen, wie wir sie kennen, wird es schon in ein paar Jahrzehnten nicht mehr geben. Bondo hat sich bereits verändert. Hier, wo jetzt Felsbrocken liegen, standen einmal viele Häuser, darunter das von Elvira Salis. Es war voller Geröll, bis hinauf in die dritte Etage.
Jetzt steht es in der Sperrzone, in der niemand mehr wohnen darf. Wenn es ihr Haus schon nicht mehr gibt – denkt sich die ehemalige Lehrerin – dann will sie wenigstens weiterhin Zwiebeln, Erbsen und Bohnen pflanzen und ihre geliebten Rosen und Sonnenblumen säen. In dem kleinen Teil ihres Gartens, der den Bergsturz überlebt hat.
Autoren: Thomas Aders / Wolfgang Wanner/ARD Studio Genf
Stand: 12.09.2019 09:32 Uhr
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