So., 06.11.22 | 12:45 Uhr
Das Erste
Singapur: Wo die Mittelschicht im Sozialbau wohnt
1960 wurde das "Housing and Development Board" ins Leben gerufen, um einer Wohnungskrise entgegenzuwirken. Heute gibt es mehr als eine Million Sozialwohnungen auf der Insel. 80 Prozent der Menschen wohnen in solchen geförderten Wohnungen. Slums oder Obdachlosigkeit gibt es hier nicht. Das Wohnungsprogramm ist teuer, aber der Staat hält daran fest. Nur so kann er qualifizierte Menschen an den Stadtstaat binden. Und er nimmt Einfluss auf das Zusammenleben. Arm und Reich leben nebeneinander. Die Ethnien werden nach einem staatlich festgelegten Schlüssel gemischt, so kommt es nicht zur Ghetto-Bildung in der Vielvölkermetropole.
Der Staat fördert den Wohnungskauf
Hier habe ich die Wand zu einem der Schlafzimmer rausgerissen, um mehr Platz zu schaffen… Ismail Wan ist sichtlich stolz auf seine drei Zimmer Wohnung. Ganz im Stil einer Yacht hat der vierfache Vater und Innendesigner sie eingerichtet. Sozialer Wohnungsbau Made in Singapur… kreativ interpretiert. "Wenn wir weniger Kinder hätten, wäre es perfekt. Wenn sie klein sind, geht’s noch recht gut, aber wenn sie grösser werden, brauchen wir mehr Platz. Trotzdem: die Wohnung ist ein toller Start für eine kleine Familie." Das Prinzip: Der Staat verkauft Familien wie den Wans eine Wohnung deutlich unter dem Marktwert. Dafür müssen sie sie mindestens fünf Jahre halten. Sie hätten auch eine Sozialwohnung mieten können, aber der Staat macht es möglichst attraktiv zu kaufen. "Als Erstkäufer bekommst du verschiedene Kredite und Vergünstigungen, damit du die Wohnung finanzieren kannst. Damit kann sich in der Regel eine Familie so eine Wohnung auch leisten".
Rund 80 Prozent aller Singapurer leben in solchen Wohnungen vom Staat, die hier alle kurz HDBs nennen. HDB steht für Housing Development Board – Behörde für sozialen Wohnungsbau. Thai Ker Liu war jahrzehntelang Stadtplaner in Singapurs Wohnungsbaubehörde. Preiswert und praktisch mussten seine Entwürfe sein und vor allem schnell umzusetzen. Der Grund: Nach dem Ende der Kolonialzeit lebten etwa zwei Drittel aller Menschen in Slums oder in überfüllten Häusern ohne Wasser und Strom. Bezahlbarer Wohnraum für Singapur damals eine Existenzfrage. "Am Anfang waren das Mietwohnungen, aber die Leute haben dann nicht so darauf Acht gegeben. Die Korridore sahen unmöglich aus. Das ist jetzt anders, denn wenn die Leute etwas besitzen, dann wollen sie auch nicht, dass es Schaden nimmt."
Wohnungsbau als Garant für sozialen Frieden
Erziehung zum Wohle der Gemeinschaft. Darauf legt in Singapur der Staat großen Wert. Wir wollten von Anfang an nicht nur Häuser bauen, sagt Stadtplaner Liu, sondern Gemeinschaften. Gemeinschaften, in denen Arzt und Automechaniker, Maler und Musiker Wand an Wand leben. "Eine Lektion ist: Wenn arme und besser gestellte Familie nebeneinander wohnen, dann werden die Kinder der ärmeren Familien sich bei den anderen viel abschauen und selbst besser und schneller im Leben voran kommen." Sozialer Wohnungsbau als Laboratorium der Gesellschaft. Denn nicht nur arm und reich sollen hier Tür and Tür wohnen. Das multikulturelle Singapur diktiert auch das Zusammenleben der Ethnien. Diese bekommen in jedem HDB nur Wohnungen entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Auch Makler Ron Chong kann beim Verkauf dieser 3-Zimmer Wohnung in Bestlage nicht an jeden X-beliebigen Interessenten vermitteln. Der Staat will ethnische Gettos unbedingt vermeiden und gibt daher Quoten vor. "In diesem Fall gehört der Verkäufer zur chinesischen Ethnie, also wenn jemand mit chinesischen Wurzeln kaufen will, ist das kein Problem; wäre er von einer anderen Ethnie müsste man erst prüfen, ob das dann konkret passt." Umgerechnet rund 800.000 Euro soll das Appartement hier bringen. Wenn die Wohnungen noch relativ neu sind, können sie bei Weiterverkauf satte Gewinne erzielen. Später nimmt der Wert in der Regel ab, denn nach insgesamt 99 Jahren fallen die Wohnblocks automatisch an den Staat zurück. Trotzdem habe sich das Modell dann in der Regel gerechnet, so der Makler. "Du hast danach die Chance, ein Alternativangebot anzunehmen. Manchmal kauft die Regierung für Renovierungen auch ganze Blocks zurück, aber das HDB kann auch einfach so an den Staat zurückfallen."
Möglich ist der soziale Wohnungsbau "Made in Singapur" nur deshalb, weil der Staat am Anfang massiv auf Zwangsverkäufe gesetzt hat und nun einen Großteil des Grund und Bodens besitzt. Das rigide Vorgehen hier wird weithin akzeptiert. Auch bei Siti und Ismail. Ihre 67 Quadratmeter haben sie vom Staat für umgerechnet rund 160.000 Euro erworben. Bald wollen sie sich vergrößern und sind guter Dinge, dass sie einen guten Verkaufspreis erzielen. "Unsere Wohnung ist schön, ungewöhnlich im Vergleich zu anderen", sagt Siti Rahuda. Die Wans haben ihre Wohnung schon abbezahlt. Auf dem freien Immobilienmarkt in Singapur, einem der teuersten der Welt hätten wir es schwer gehabt, sagen sie. Das Wohnungsbauprogramm als Garant für sozialen Frieden. Der reiche Stadtstaat ließ sich das zuletzt umgerechnet rund 1,6 Milliarden Euro im Jahr kosten. "Ich finde, sie bekommen das gut hin" sagt Wan Ismail. "Wir haben einen guten Mix an drei, vier- und fünf Raum-Wohnungen in den Blocks, sodass sich alle Alters- und soziale Gruppen gut vermischen und aneinander anpassen." Mit drastischen Direktiven und vielen Subventionen hat Singapur durchgesetzt: Sozialer Wohnungsbau ist hier Norm und nicht Stigma.
Autorin: Sandra Ratzow, ARD-Studio Singapur
Der Weltspiegel-Podcast "Wohnen ohne Wucherpreise" ist in der ARD-Audiothek und auf allen gängigen Audio-Plattformen zu finden.
Stand: 07.11.2023 03:06 Uhr
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