So., 05.08.12 | 19:20 Uhr
Indonesien: Matriarchat der Minangkabau
Die zehn großen und vielen kleinen Volksgruppen Indonesiens mit 700 eigenständigen Sprachen bewahren ihre Identität. West-Sumatra ist die Heimat der Minangkabau. Die sieben Millionen Minangkabau Indonesiens gelten als die größte matrilineare Gesellschaft der Welt. Häuser und Grund und Boden gehören traditionell allein den Frauen. Hier erben die Töchter, nicht die Söhne. Und die Minangkabau sind berühmt für ihre prächtigen Hochzeiten. Die Hochzeitsriten sind ein zentraler Teil ihrer Kultur.
Abendstimmung über den Reisfeldern von West-Sumatra. Die Landschaft, geprägt von Vulkanen wie hier dem Merapi, ist die Heimat der Minangkabau. Einer der zehn grossen Stämme im Vielvölkerstaat Indonesien. Und die Minangkabau sind berühmt für ihre prächtigen Hochzeiten. Frau Titi und Herr Boviar haben einen langen Tag hinter sich. Begonnen hatten die Feiern mit der Flaggendekoration fürs Dorf Batu Putiah. Dies sind die offiziellen Farben der Minangkabau.
Das kleine Dorf lebt vom Reisanbau. In den Feldern die hier typischen Büffelhorn-Häuser. Kinder sind unterwegs um die Nachbarinnen zur Hochzeitsfeier einzuladen. Die können ihre Männer mitbringen, aber eingeladen werden die Frauen. Im Haus der Braut steht schon der Hochzeitsthron. Der wird auch später dort bleiben. Die Hochzeits-Riten sind ein zentraler Teil der Minangkabau-Kultur. Die Männer reden und rauchen. Im Nebenzimmer wird die Braut geschminkt: Titi Erina ist 23. Ihre Eltern haben den Bräutigam für sie ausgesucht. „Ich habe ihn zweimal gesehen, hier im Haus“, sagt sie. „Er ist der Richtige für mich.“
Die Minangkabau sind eine matrilineare Gesellschaft. Hier erben nicht die Söhne sondern die Töchter. Es erscheint: Bräutigam Boviar. 35, Stuckateur von Beruf. Er geht nirgendwo hin ohne seine Zigaretten. Die Dächer der traditionellen Minangkabau-Häuser symbolisieren die Hörner des Wasserbüffels. Minangkabau heisst übersetzt: Siegreicher Büffel. Die Tiere sieht man bisweilen noch in den Reisfeldern.
Braut Titi trägt inzwischen ihr erstes Hochzeitskleid des Tages: Die Minangkabau sind seit Jahrhunderten fromme Moslems. Gleichzeitig aber dominieren die Frauen. Das steht im Widerspruch zum Islam. Man hilft sich mit einem Kompromiss: Der erste Teil der Hochzeit folgt islamischem Brauch. Vor dem Standesbeamten übergibt der Vater seine Tochter. Später aber wird er nur noch eine Nebenrolle spielen. Und Titi findet die Geste der Unterwerfung unter den Mann offenbar komisch. Nach diesem ersten Teil der Hochzeit gehört die Hauptrolle den Frauen und der Braut. Nach dem Essen hat selbst der Bräutigam zu verschwinden. Ins Haus seiner Mutter. Dort muss er warten, bis Titi i h n heimholt. Sie telefoniert derweil mit einer Freundin.
Die sieben Millionen Minangkabau Indonesiens gelten als die grösste matrilineare Gesellschaft der Welt. Häuser und Grund und Boden gehören traditionell allein den Frauen. Frau Arifah ist die künftige Erbin dieses Hauses. Dessen Erhalt, sagt sie ist furchtbar teuer. Neue Tragpfeiler hat sie einziehen lassen. Die alten waren verrottet. Das Haus ist 168 Jahre alt. Es gehört zu den wenigen noch wirklich bewohnten Traditionsbauten. Vor allem junge Leute zieht es in die Städte. Viele alte Häuser verfallen.
Frau Arifah's Mann und ihre Kinder leben verstreut in ganz Indonesien. Nur sie harrt noch aus bei ihrer Mutter. In provinzieller Nostalgie. Die Minangkabau-Kultur zerfällt, sagt die 83-jährige Dayar. Nichts ist mehr wie früher. Früher, sagen sie, waren die Frauen stärker. Haus- und Grundbesitz auf dem Land spielen keine so grosse Rolle mehr, das Matriarchat wird dadurch ausgehöhlt. Aber Frau Arifah, stolz auf ihrem alten Hochzeitsthron, will bleiben. Meine Tochter, sagt sie, soll das Haus erben.
Titi hat inzwischen das traditionelle Brautgewand angelegt. Ausgeliehen vom Hochzeitsausstatter. Der Kopfschmuck erinnert an den Goldreichtum der früheren Feudalreiche der Minangkabau. Ja, sagt sie, ich bin stolz auf unsere Sitten und Gebräuche. In der Moschee beten inzwischen die Männer. Als Zugeständnis an den Islam dürfen inzwischen auch Männer selbst erworbenes Vermögen ihren Söhnen vererben. Auch das höhlt die matrilineare Kultur weiter aus.
In dieser Neubau-Siedlung wartet am Nachmittag der Bräutigam darauf, dass seine Braut ihn heimholt, ins Mutterhaus. Wo er künftig wohnen wird. Die Braut kommt in büffelgehörnter Begleitung. Dies ist die Stunde der Frauen. Hier lebt sie noch einmal auf, die alte Kultur der Minangkabau, deren Rolle im Alltag mehr und mehr schwindet. Aber sie bleibt von Bedeutung: Die zehn grossen und vielen kleinen Volksgruppen Indonesiens mit 700 eigenständigen Sprachen bewahren ihre Identität.
Dann darf auch der Bräutigam Platz nehmen. Seine Zigaretten hat er vorsichtshalber mitgebracht. Aber rauchen darf er auf dem Thron wohl nicht. Am Abend zieht das Paar durch das Dorf der Braut. Sie stellt ihn vor als den "Gast in meinem Haus", so werden Ehemänner hier genannt. Trotz vieler negativer Schlagzeilen aus Indonesien, von radikalem Islam und separatistischen Zerreissproben: Die Minangkabau sind heute ein Beispiel für die friedliche Integration so vieler Völker. Und der Bräutigam, wieder auf dem Thron, kann noch immer nicht rauchen.
Robert Hetkämper, ARD Singapur
Stand: 22.04.2014 14:52 Uhr
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