So., 12.01.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
La Réunion: Haialarm im Touristenparadies
"Bitte gehen sie nicht ins Wasser! Es gibt überall Haie." So werden Badeurlauber inzwischen auf der Ferieninsel La Reunion empfangen. Allein in den letzten beiden Jahren gab es fünf tödliche Haiattacken auf der zu Frankreich gehörenden Insel im Indischen Ozean. Die Inselverwaltung will nun rund 80 Haie "entnehmen" lassen. Sie sollen getötet werden. Über diesen Plan ist ein heftiger Streit entbrannt. Naturschützer auf der einen, Touristik-Unternehmen und viele Einheimische auf der anderen Seite. Eine Reportage über einen klassischen Konflikt in einem beliebten Feriengebiet von Markus Preiß, ARD Paris.
Das hier war mal sein Leben: die Wellen, das Meer, das Surfen: Heute aber ist der Strand von La Réunion für Anthony Aubert ein Ort des Nachdenkens. Kann man ein Tier hassen für etwas, das es getan hat? Und wie lautet die Antwort, wenn das Tier den Bruder getötet hat? "Als ich im Radio von einem Haiangriff hörte, ahnte ich schon nichts Gutes. Ich bin zum Strand, sah die Polizei, sah seine Sachen - da war mir klar, dass mein Bruder nicht mehr lebt." Anthonys Bruder war das erste von fünf Hai-Opfern in den letzten zwei Jahren. "Ich leide darunter: zu wissen, daß er allein da im Wasser war, daß er geschrien hat. Dass er Angst hatte. Ich hätte ihm gern noch so viel gesagt."
Tödliche Gefahr - überall um La Réunion. Das Risiko eines Hai-Angriffs ist hier statistisch 1.000 mal höher als in Amerika oder Australien. Groß ist die Wut auf die Tiere – doch warum sich die Angriffe häufen, weiß niemand. Manche halten es für Zufall, andere schimpfen auf ein Naturschutzgebiet vor der Insel. Einer, der es herausfinden will, steuert dieses Schiff: Thierry Gazzo, so sagt man uns, sei eine Legende unter den Fischern des Indischen Ozeans. Er schafft es immer wieder, Tiger- oder Bullenhaie zu fangen. Auch heute wird er es versuchen – zu Forschungszwecken. Die Tiere jetzt einfach zu töten, wie viele es fordern, hält er für eine Überreaktion. "Es ist eine ziemliche delikate Sache, wenn wir jetzt das Image bekommen: La Réunion das sind die Haitöter. Denn der Hai ist weltweit zu einer Ikone des Umweltschutzes geworden. Das könnte das Image der Insel schwer beschädigen. Ich finde, man sollte einen Weg finden, der Mensch und Tier gerecht wird."
Doch auch dazu gehört, den Hai erstmal zu fangen. Tintenfisch und Makrelen als Köder, zwei Kilometer lang ist die Leine. Thierry Gazzo arbeitet derzeit für ein staatliches Forschungsprojekt. Die gefangenen Haie werden nicht getötet, sondern bekommen einen Sender. So will man herausfinden, wo sich die Tiere aufhalten, wann sie ans Ufer kommen. Und ob die Haie hier vor La Réunion heimisch sind oder durch den ganzen Ozean wandern. Das alles, um das Baderisiko besser vorauszusagen. Wird heute ein Hai anbeißen? Es heißt: warten, warten, warten.
Noch mehr Warten, noch mehr Studien, noch mehr Tote? Jean Francois Nativel zeigt uns seine Argumente für schnelles Handeln. Dass hier ist ein Bullenhai - und das hier ein Tigerhai. Nativel hat eine Bürgerinitiative gegründet, die auf La Réunion politisch Druck macht, Haie zu töten. Obwohl er den weltweiten Sturm der Entrüstung im Internet schon ahnt und die Polemik: Tourismus auf La Réunion - baden im Blut. "Das ist ein riesiges Tabu. Wenn irgendwo eine alte Dame ausgeraubt wird, dann regt das niemanden auf. Aber sobald sie ein Tier töten, empört sich die ganze Welt. Weil die Leute Schuldgefühle haben; denken, wir haben die Natur schon genug zerstört." Was ihn ärgert ist, dass Menschen Artenschutz verlangen, die weit weg leben und für die Haie überhaupt keine Gefahr sind. Während die Bewohner der Insel es mit solchen Verletzungen zu tun haben. Und mit diesen Schildern: Bis auf einen einzigen Strand herrscht Badeverbot - maximal ein paar Schritte ins Wasser sind drin. Schwimmen? Zu gefährlich.
Stephane LesCarret ist Surflehrer, war Surflehrer muss man wohl eher sagen. Die Haie, sagt er, hätten ihn ruiniert. "Die Kundschaft ist traumatisiert, keiner will ins Wasser. Ich habe alles verloren, so einfach ist das. Ich habe hier nur noch wertlose Surfbretter liegen." Was Stephane besonders ärgert: Das Problem ist für ihn vom Mensch gemacht. Denn Haie - erklärt er seinen verbliebenen Kunden - gab es hier schon immer. Doch erst seit die Küste Naturschutzgebiet sei, gäbe es die Probleme. Seine Erklärung: Keine Fischerei, kaum Motorboote, keine lärmenden Jetskis - man habe die Haie förmlich eingeladen, sich vor La Réunion nieder zu lassen. "Es ist schön, so ein Naturschutzgebiet - aber wir sind ein Badeort. Würden sie mitten in Johannesburg ein Löwenreservat aufmachen? Und dann sagen: Toll, Natur?! Vollkommen unlogisch." Jetzt aber sind die Haie da. Die 800.000 Einwohner der Insel kennen kaum ein anderes Thema. Müssen sie schlicht mit der Gefahr leben? Oder dürfen sie radikal zurückschlagen und die Haie töten? Grundsätzlich hat sich die Prefecture der Insel schon vor einiger Zeit entschieden, 90 Haie zu "entnehmen" – Interviews dazu aber: keine.
"Jetzt, das ist ein Hai." Nach sechs Stunden, endlich, schimmert ein kleiner silberner Fleck im Wasser. Im Gesicht von Thierry Gazzo merkt man die Anspannung. Es ist ein Tigerhai. Unsere Unterwasserkamera zeigt, wie groß er ist: Fast vier Meter lang, etwa 300 Kilo schwer. An der Rückenflosse ein kleiner gelber Sender - das Tier ist bereits markiert. "Es ist der Tigerhai Nummer 22, den hatten wir schon, wir lassen ihn wieder frei. Weil wir mit den Daten, die er liefert, immer genauer lernen, wie sich die Tiere verhalten."
Doch vorher steigt Thierry selbst noch ins Wasser - zum Hai an der Leine. Uns stockt der Atem, aber er sagt, er mache das jedes Mal. Er wisse nicht, ob der Hai sich das merke. Aber er wolle ihm zeigen: auch der Mensch habe seinen Platz im Ozean. "Das ist meine Art, das Hai-Problem zu entmystifizieren. Die Leute halten jeden Hai für einen Menschenfresser, den man töten muss. Aber das stimmt nicht. Wir müssen mehr über die Tiere lernen und uns anpassen, etwa wann und wo man besser nicht ins Wasser geht." Dann wird Tigerhai 22 wieder frei gelassen - keine neuen Daten diesmal für die Wissenschaft. Thierry Gazzo fährt zurück. Er wäre auch bereit, die Haie zu töten, wenn der Staat ihn demnächst beauftragt. Als Fischer sei das sein Job. "Das wird der Staat aber geheim oder disket halten. Ich bin mir sicher, dann dürft ihr nicht mitkommen um das zu filmen."
Was ist schlimmer für La Réunion? Als die gefährliche Hai-Insel zu gelten oder als die der barbarischen Tiermörder? Auch Anthony Aubert weiß, wie schwer die Entscheidungen sind, die jetzt getroffen werden. Rache für seinen Bruder fordert er nicht. Aber er findet - wenn man hier nicht mehr ins Wasser kann, dann hat die Insel ihre Seele verloren.
Stand: 15.04.2014 10:35 Uhr
Kommentare