So., 10.05.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Syrien: Frauen-Power im Bürgerkriegsland
Mit dem klassischen Frauenbild hat Nesreen Shaheen nicht viel am Hut. Sie repariert Hochspannungsleitungen. Dieser Job für eine Frau auf dem Land in der Provinz Homs, wo sie lebt, wäre vor dem Krieg undenkbar gewesen. Doch in Syrien fehlen die Männer: Millionen sind geflohen, ums Leben gekommen oder halten noch immer die Stellung an einer der vielen Fronten im Land.
Beweisen, daß eine Frau genauso arbeiten kann, wie ein Mann
Ihr Aufstieg ist in Syrien sehr, sehr ungewöhnlich. Hier oben repariert Nesreen eine Verbindung des Hochspannungskabels. Es ist kaputt. Eine Frau in diesem Job – vor dem Krieg undenkbar. "Ich arbeitete zuerst in der Verwaltung. Ich ging nicht raus. Aber durch die neue Situation durch den Krieg und die Krise, wollte ich raus aufs Feld, wie die Männer. Damit wir uns die Arbeit teilen. Ich wollte beweisen, dass eine Frau genauso arbeiten kann, wie ein Mann."
Gleichberechtigung auf dem Land ist nicht selbstverständlich. Eine tief konservative Gegend – Frauen haben hier wenig zu sagen. In Nesreens Familie ist das anders: Natürlich spielen die Töchter Fußball, natürlich mit den Brüdern. Gleichberechtigt. Darauf legt die Mutter wert. Die studierte Elektrotechnikerin hilft ihren Kindern bei den Hausaufgaben. Nesreen will, dass ihre Töchter auch einmal einen guten Job bekommen. Die Chancen sind gut, denn Frauen werden überall gebraucht: "Wir sind im Krieg. Es ist ein Elend. Dreiviertel der jungen Männer wurden zum Wehrdienst eingezogen. Dreiviertel sind zur syrischen Armee gegangen. Ich bin seit zehn Jahren verheiratet. Anfangs war ich nur Hausfrau. Dann gab es diese Ausschreibung im Elektrizitätssektor und ich habe mich beworben."
Nesreen auf dem Weg zum nächsten kaputten Strommasten. Ihr Mann arbeitet im Finanzsektor. Er musste nicht zur Armee, weil er der einzige Sohn der Familie ist. Sie leben in der malerischen Provinz Homs. Aber auch hier immer wieder Trümmer. Syrien steht vor einer gigantischen Wiederaufbau-Herausforderung. Millionen Männer sind geflohen oder im Krieg umgekommen. Andere halten noch immer die Stellung an einer der vielen Fronten im Land.
Frauen sind für den Wiederaufbau unverzichtbar
Ohne die Frauen geht es nicht. Tausende Strommasten im Krieg zerstört. Es gibt viel Arbeit für Nesreen und ihre Kolleginnen. Und genau so viel Kritik. Für religiös Konservative ist es ein Skandal, wenn Frauen in engen Hosen, Strommasten hochklettern. "Gott sei Dank konnte ich die Kritik in der Gesellschaft an uns überwinden, die sagt: eine Frau kann nicht", meint Nesreen. "Nein wir können. Die Frau ist wie ein Mann. Wir können helfen. Ich hoffe, dass wir diese Gewohnheit brechen, dass die Frau nur im Büro arbeiten kann. Nein, wir müssen raus, in die Realität, und diese Erfahrung ist sehr gut."
Sie sind etwas besonders hier auf dem Land. Feierabend. Die Familie geht zum Abendessen aus. Für Nesreen ist es wichtig, dass die konservative Kritik auch an den Töchtern abprallt. "Ich bin stolz auf Mama" sagt Cedar, "weil sie zu Hause arbeitet und ihre Arbeit draußen sehr schön und schwer ist." Und Ahmad meint: "Ich bin der, der am meisten meine Frau ermutigt hat. Bei uns herrscht Gleichheit zwischen Mann und Frau – bei der Arbeit und auch sonst."
Nesreen macht sich Gedanken. Wie geht es weiter, wenn der Krieg zu Ende ist? Wenn die vielen Männer in der Armee wieder ins normale Arbeitsleben zurückkehren wollen. Werden sie es schaffen die Zeit zurückzudrehen? "Als wir anfingen waren wir nicht mehr als eine oder zwei. Aber bei uns arbeiten jetzt ungefähr 20 Frauen. Sie arbeiten alle draußen. Es ist eine sehr schöne Erfahrung. Ja, es gibt Schwierigkeiten, aber ich glaube, wir werden mehr." Es ist die Zeit der Frauen meint Nesreen. Für den Wiederausbau ihres Landes seien sie unersetzlich. Es gebe zu viel zu tun, nach neun Jahren Bürgerkrieg in Syrien.
Autor: Alexander Stenzel, ARD-Studio Kairo
Stand: 10.05.2020 21:03 Uhr
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