Mo., 19.10.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Taiwan: Die Scooter-Lawine
Taiwan, Taipeh – Motorroller-Armee. 23 Millionen Einwohner, 14 Millionen Scooter. Viertakt-Hölle auf zwei Rädern. Und es wird nicht besser. Die Freundinnen Amy und Lillian haben zwar Abi, aber noch keinen Führerschein. Und ohne den ist man in Taiwan kein Mensch. Trainingslager unter Elternaufsicht. Denn Fahrstunden für Roller sind hier keine Pflicht. Übermorgen ist Prüfung. Die 19-jährige Lillian Liu dazu, "Der Scooter ist viel mobiler als ein Auto. Man kann überall schnell und einfach parken."
"Beim Test musst Du sieben Sekunden langsam geradeaus fahren. Wenn man nervös ist, kommt man leicht aus der Spur – aber der Führerschein gehört einfach dazu beim Erwachsenwerden." erklärt Amy Hsieh.
Ideal für die kurzen Wege
Im Großraum Taipei mit über sieben Millionen Einwohnern ist der Scooter das Vehikel der Wahl. Günstig, beweglich, belastbar. Anders als z.B. in Tokio leben die Menschen in Taiwan dort, wo sie auch arbeiten – die Wege sind kurz, Auto: überflüssig. Der Student Jason Huang "Ich tanke einmal im Monat – kostet mich nur zwei Euro. Das reicht für den Weg zur Uni und zurück."
Der Universitäsangestellte Chen Yen-Yan "Ich hab' auch ein Auto und weiß, wie das läuft – die Scooter quetschen sich immer dazwischen."
2000 Verkehrstote im Jahr
14 Millionen Stück. Ohne Kinder und Senioren: Jeder hat einen. Es ist verdammt eng da draußen. Und abenteuerlich. Aber auf die Allzweckwaffe verzichten? Im Leben nicht. Und das kommt dabei raus: benzingetränkte Scooter-Lawinen zur rush hour. Ist so einfach wie Fahrradfahren, meint auch Bryan Dong von der taiwanischen Motorradfahrer-Partei. Doch Dong hat Frust im Tank – und mit ihm 14 Millionen potentielle Wähler, "Die Straßenplanung ist schlecht und das politische Umfeld auch. Das ganze Verkehrsmanagement ist unfair gegenüber Scootern. Es gibt etwa 2000 Verkehrstote im Jahr, die meisten davon Scooterfahrer. Dabei werden 60 Prozent aller Unfälle von Autos verursacht."
Das Internet ist voll von schlimmen Crashs, die hier sind harmlos. Ein Auto bietet Schutz, auf dem Scooter ist der Mensch die Knautschzone. Autos, Busse, Lkw: Ziehen gern mal raus. Da helfen auch extra Fahrspuren für Rollerfahrer nicht. Der Platz ist endlich, die Ignoranz groß. Die Scooterlobby fordert Gleichberechtigung.
"Es gibt mehr als doppelt so viele Scooter wie Autos, aber bei der Straßenplanung bekommen die Autos immer mehr Raum als die Scooter. Und wegen dieses Platzmangels passieren dann die ganzen Unfälle." sagt Bryan Dong.
Scooter, Scooter, Scooter. Platz ist ein Problem, der Dreck in der Luft ein anderes. Viele Freiluftfahrer tragen ein Tuch, um nicht abgasbetäubt vom Zweirad zu fallen. In der Volksrepublik China sind vielerorts nur noch Elektroroller erlaubt – in Taiwan wird weiter gesprittet.
Lieber Sprit als Elektro
Wenn's klappt mit dem Führerschein, dann springt ja für Amy und Lillian vielleicht ein neuer Scooter raus. Auch in Taiwan gibt’s ein schickes, neues E-Mobil. Allerdings ist das mit fast 4000 Euro mehr als doppelt so teuer wie die üblichen Knatterkisten. Noch sind die Aspirantinnen nicht überzeugt. "Viele E-Roller muss man zuhause aufladen. Mit den traditionellen geht man zur Tankstelle und tankt. Und es gibt überall Tankstellen. Bei einem üblichen Scooter würde es nie passieren, dass ich den leer nach Hause schieben muss." meint Amy. Ihre Freundin Lillian sagt zum Thema nur, "E-Roller sind langsam, da kommt man zu spät."
Stimmt zwar nicht, denken aber viele. Also ist Taiwan tapeziert mit Rollern: Straßen, Bürgersteige, Hauseingänge. Denn Parken ist meist kostenlos. Ihre Zahl hat sich in 15 Jahren verdoppelt. Nur eine Spezies hält noch Stand, die alte 125er Suzuki. Auftrag: Gefahrguttransport. Vor rollenden Gasflaschen haben auch Scooter-Fahrer Respekt.
Schulungsvideo dient eher der Erheiterung
Der Tag der Wahrheit: Fahrtest. 250 Prüflinge am Tag, fast 90.000 im Jahr in Taiwans größter Führerscheinstelle allein. Amy und Lillian: Mit sieben Euro sind sie dabei. Dann doktert sich Amy durch den Medizin-Check. Lillian ist schon zweimal durchgerasselt, wiederholt nur die Praxis. Amy hat noch Theorie. Doch wer sich dank Lehrbuch und Internet nicht ganz schusselig anstellt, überlebt auch die. 40 Fragen, sechs mögliche Fehler: 95 Prozent korrekt, wer sagt’s denn:
Amy hat den ersten Teil geschafft, "Ich bin noch ganz aufgeregt. Man kann ja auch da drinnen bei der Theorie schon durchfallen. Jetzt habe ich aber noch die Praxis vor mir, da kann man noch leichter durchfallen. Ach, bin ich nervös!"
Alles viel zu einfach, sagt selbst die Motorradfahrer-Partei. Daran ändert auch das Schulungsvideo nichts. Das dient eher zur Erheiterung. "Die größte Angst habe ich immer noch vor diesem 'Langsam-Geradeaus-Fahren'. Die Spur ist so eng. Viele fallen da schon durch." meint Amy.
Wenn die Sirene heult
Spurbreite nur 40 Zentimeter – und schon heult die Sirene. Gut, hier darf Amy nochmal. Hilft aber nix. Langsam geradeaus fahren – nicht ihre Stärke. Aus, raus. Wie fast jeder dritte Prüfling. Nächster Anlauf: frühestens in einer Woche.
Lillian gibt Gas, nur nicht umfallen. Fast ist sie zu schnell, genau sieben Sekunden, Maßarbeit. Ampelphase, Bahnübergang, Zebrastreifen – feuchte Hände und viel Zittern. Aber dann ist es geschafft, nach 37 Sekunden voller Qual: Da kann man besser Abi machen. "Ich hab’s geschafft! So gut hab ich mich noch nie gefühlt. Ich hab ihn – im dritten Anlauf." meint Lillian.
"Ich versuch's einfach weiter. Ich muss mehr üben und lernen, nicht so schnell nervös zu werden. Dann klappt das auch.", sagt ihre Freundin Amy.
Lillian ist schon mal erwachsen geworden. Was wäre sie auch ohne Scooter? In Taiwan? Beglückt rollert sie davon, Amy im Gepäck. Vorsicht, ihr 14 Millionen – wir kommen!
Autor: Uwe Schwering/ARD Tokio
Stand: 09.07.2019 21:12 Uhr
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