So., 26.07.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Agent oder politischer Häftling? - Deutsch-Türke in den Fängen von Erdogans Justiz
Dilara Yilmaz ist auf dem Weg zum Sincan-Gefängnis am Rande der türkischen Hauptstadt Ankara. Ihr 75-jähriger Vater Enver Altayli ist dort seit fast drei Jahren wegen Terrorvorwürfen eingesperrt. Er hat die türkische und die deutsche Staatsbürgerschaft.
Die Fahrt auf das Gefängnisgelände können wir nur mit dem Handy filmen. Sincan ist ein Hochsicherheitsgefängnis. Yilmaz ist Anwältin und verteidigt ihren Vater vor Gericht. Im Gegensatz zum Rest der Familie ist sie gläubige Muslimin. Dort hinten, so Yilmaz liege die Zelle des Vaters. In Sincan sitzen viele politische Gefangene. Für den deutschen Staatsbürger Altayli gelten verschärfte Bedingungen, erklärt uns Yilmaz.
Eine besondere Vergangenheit
Die Anwältin zeigt uns Fotos ihres Vaters, die im Gefängnis aufgenommen wurden. Altayli hat eine ziemlich spezielle Vergangenheit: Ende der 60er Jahre arbeitet er für den türkischen Geheimdienst. Dieser schickt ihn zum Studium nach Deutschland. Zurück in der Türkei arbeitet er vier weitere Jahre für den Dienst. Dann wird er Journalist einer der nationalistischen türkischen Partei MHP nahestehenden Zeitung. Nach dem Putsch 1980 verfolgt das Militär viele Journalisten. Altayli flieht nach Deutschland, verkauft dort Lebensmittel und engagiert sich bei der MHP, die heute mit der Erdogan-Partei AKP im Bündnis steht. Damals wird er deutscher Staatbürger. Als er in den 90er Jahren in die Türkei zurückkehren kann, übernimmt er diplomatische Aufgaben.
Inzwischen habe sich Altayli von der MHP abgewandt, so die Tochter. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 75-Jährigen eine Führungsfunktion in der Gülen-Sekte vor. Diese wird vom türkischen Staat für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gemacht. Doch die Anklageschrift würde das gar nicht beweisen, so die Tochter. Vielmehr heißt es in dieser, Altayli habe dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan unterstellt, dieser habe selbst den Putschversuch kontrolliert.
Doch es gibt noch einen weiteren Vorwurf gegen den Vater: Die türkische Hafenstadt Bodrum in der Ägäis. Altayli, so die Anklageschrift, wollte einem Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes nach dem Putschversuch 2016 zur Flucht helfen. Auch der Geheimdienstmitarbeiter soll ein Mitglied der Gülen-Sekte sein. Dieser, so die Anklageschrift, sollte mit einem Boot von Bodrum auf eine griechische Insel gebracht werden.
Zweifelhafte Vorwürfe
Die Aussage gegen Altayli hat der Geheimdienstmitarbeiter vor Gericht zurückgezogen, sagt Dilara Yilmaz. Dabei wurden die das Verhör führenden Polizisten schwer belastet: Diese sollen den Mann mit einem Knüppel sexuell misshandelt haben.
Kaum etwas bleibt übrig von den Vorwürfen gegen den Deutsch-Türken Altayli. Im Umfeld der Erdogan-Partei AKP ist immer wieder von Altaylis dunkler Vergangenheit die Rede, konkrete Fakten fehlen jedoch.
Der Justizpalast in Ankara: Am 16. Juli steht Altayli erneut vor den Richtern. Vielleicht könnte er längst ein freier Mann sein, wenn er Deutschland belastet hätte, sagt seine Tochter Dilara Yilmaz: "Während seines Polizeigewahrsams haben die Polizisten ihm täglich angeboten als sogenannter Spion Deutschlands auszupacken und auszusagen, dass Deutschland geheime Pläne hätte, in der Türkei Unruhe zu stiften. Mein Vater hat das nicht akzeptiert, einfach aus dem Grund, weil es nicht der Wahrheit entspricht."
Altaylis Frau und die Tochter hoffen jetzt auf den nächsten Prozesstag im September. Doch sie ahnen auch, dass ein Urteil unabhängig von den Fakten an ganz anderer Stelle vielleicht bereits gefällt wurde.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 26.07.2020 20:39 Uhr
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