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Türkei: Giftiger Staub nach dem Erdbeben

PlayBagger ist vor Staub kaum zu sehen
Türkei: Giftiger Staub nach dem Erdbeben | Bild: SWR

"Wir haben das Erdbeben überlebt, aber der Staub wird uns töten." In der Stadt Samandag in der Provinz Hatay liegt die Altstadt in Schutt und Asche. Sechs Monate nach dem Erdbeben laufen die Aufräumarbeiten immer noch. Über der Stadt schwebt eine Staubwolke - und die weckt bei den Bewohnern neue Sorgen. "Sie machen alles platt, auch Gebäude und Firmen, in denen chemische Stoffe gelagert wurden. "Sie treffen keine Vorsichtsmaßnahmen", sagt ein junger Aktivist. Hinzu kommen Giftstoffe aus elektronischen Gegenständen unter den Trümmern und Asbest. Laut der Ärztekammer in Hatay sei bereits jetzt ein Anstieg von Allergien, Asthma und Bronchitis zu verzeichnen. Die Istanbuler Kammer der Umweltingenieure untersucht nun die Trümmer gezielt auf Asbest.

Der Weltspiegel Podcast "Giftiger Staub – Sechs Monate nach dem Erdbeben in der Türkei" von Joana Jäschke, Steffi Fetz und Anna-Carina Blessmann. Zu hören in der ARD – Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

Überall ist Staub in der Stadt

Man braucht wirklich nicht danach zu suchen – denn er ist überall in Samandag: der Staub, der die Stadt umhüllt und durchzieht wie die Luft zum Atmen. Geröll und Schutt an jeder Ecke. Und mittendrin: Die Menschen. Wie Rosa. Die 37jährige lebt wie die meisten, die hiergeblieben sind, zwischen eingestürzten Häusern. "Wir halten uns fast immer draußen auf, da es in den Containern sehr heiß ist und es meistens auch keinen Strom gibt", sagt Rosa Demetgül. "Den ganzen Tag eine Maske zu tragen, das klappt nicht. Du isst etwas, trinkst etwas. Und dieser Staub dringt überall ein. Da wir auch kaum Wasser haben, können wir ihn nicht einfach abwaschen."

Verstaubte Pflanze
Überall Staub  | Bild: SWR

Rosa lebt momentan mit ihren Eltern und ihrer Schwester Yildiz in einem Container auf dem Grundstück ihres eingestürzten Hauses. Eine schwierige Situation. Hier starb Rosas jüngere Schwester – die Zwillingsschwester von Yildiz, unter den Trümmern. Jetzt, sechs Monate später, versucht die Familie irgendwie weiterzumachen. Rosa zeigt uns ihren geliebten Garten – die Gegend war bis vor dem Erdbeben für ihre Fülle an Obst und Gemüse bekannt: "Normalerweise müsste hier alles voll hängen. Aber auf Grund des Staubs und all der Chemie, die in der Luft hängt, wächst hier gar nichts mehr."

Wasser zum Gießen fehlt sowieso. Und immer ist da auch diese Angst dabei, sagt Rosa. Im Staub sind giftige Chemikalien, die sie krank machen können – denn der Staub wird immer mehr. "Dieser ganze Bauschutt mit Chemikalien, den haben sie nicht weit weg von hier gebracht, sondern ihn in der Nähe des Strandes abgeladen. Inzwischen ist das ein unglaublich hoher Schuttberg geworden, höher als Strommasten." Wir machen uns selbst ein Bild vom Ausmaß des Schuttbergs. Direkt vor Samandag erstreckt sich die Deponie über mehrere hundert Meter. Was hier gelagert ist, soll zum Teil hochgiftig sein. Das belegt ein Bericht der Istanbuler Umweltingenieurskammer. Von acht Stichproben verschiedener Deponien in der Region sind vier stark asbestbelastet. Hinzu kommen Schwermetalle wie Quecksilber.

Anstieg bei der Zahl der Krankheiten

Ali Kanatli ist Mitglied der Ärztekammer. Er und seine Kollegen stellen seit dem Erdbeben einen deutlichen Anstieg an Allergien, Atemwegserkrankungen und Augenleiden fest. "Die Schwermetalle kleben am Staub und fliegen durch die Luft. Also kann man auch nicht sagen: hier ist es besonders gefährlich, denn es gibt sie einfach überall und man kann sie mit bloßem Auge nicht sehen." Das macht den Staub besonders gefährlich. Und noch etwas anderes bereitet dem Arzt große Sorgen. Viele Krankheiten könnten erst Jahre später ausbrechen. "Es muss dringend Vorkehrungen zum Schutz der Menschen geben. Denn wir wissen: Asbest führt in vielen Fällen zu Lungen – oder auch Magenkrebs, oft erst nach 20 oder 25 Jahren."

Familie vor Wohncontainer
Viele Menschen leben immer noch in Containern  | Bild: SWR

Sie versuchen die Menschen in Samandag zu warnen. Die Gruppe "Yeni Insaat Platformu", alles freiwillige Aktivisten aus der Gegend. Heute verteilen sie gratis FFP-3-Masken an Anwohner. Vielen hier sei die Gefahr des Staubes überhaupt nicht bewusst. Auch weil sie andere Sorgen haben. "Viele sagen uns, wir sind sowieso schon tot", erzählt Ingenieurin Gizem Cabbaroglu. "Wir haben so viele Opfer zu beklagen, wir sehen keine Unterstützung von der Regierung. Ist die Sache mit dem Staub wirklich so wichtig? Denn sie können die Krebsgefahr nicht einschätzen, weil sie so auf ihren aktuellen Schmerz fixiert sind."

Unterkünfte außerhalb der Stadt gebe es kaum, vielen bleibt nichts anderes übrig, als in Zelten oder Containern mitten zwischen Häuserruinen zu übernachten – derzeit bei tagsüber 40 Grad. Um den Staub zumindest etwas eindämmen zu können müssten die Abtragungsarbeiten bewässert werden. Laut den Aktivisten passiere das aber in den seltensten Fällen. "Leider fangen die meisten Bauunternehmen damit erst an, wenn sie die Presse sehen", beklagt sich Gizem Cabbaroglu. "Ansonsten machen sie das nicht. Jetzt haben sie euch mit der Kamera gesehen und dann angefangen den Schutt mit Wasser zu besprühen. Leider ist das aber die Ausnahme."

Langes Anstehen für Wasser

Wasser ist ohnehin ein großes Problem in Samandag und der gesamten Provinz Hatay – vor allem trinkbares. Um an Wasser zu kommen, stehen die Bewohner oft stundenlang an. Denn was aus den Leitungen fließt, könne man nicht trinken. "Das Wasser aus der Leitung ist ganz weißlich verfärbt. Wir wissen nicht, was da drin ist. Kalk oder doch etwas anderes? Neben uns werden Häuser abgerissen, wer weiß, was da rein fließt." Die Wasserlieferungen sind organisiert von Freiwilligen. Auch mit Spenden aus dem Ausland. Organisator Meric Gültekin sagt: Auch sechs Monate nach dem Beben ist die Versorgungslage extrem schwierig. "Unsere Provinz Hatay ist kein Intensiv-Patient, auch nicht einfach krank – wir liegen immer noch im Koma. Und wann wir jemals wieder zu uns kommen, weiß niemand."

Menschen warten auf Verteilung von Wasser
Anstehen für Wasser  | Bild: SWR

Zurück bei den freiwilligen Aktivisten. Gerade sind sie bei Rosas Familie angekommen. Die Familie, die direkt zwischen den Trümmern lebt. Rosa erzählt: Die Aufräumarbeiten kommen ihr endlos und ohne System vor. "Mal arbeiten sie bis drei, mal nur bis eins. Dann geht ihnen das Benzin aus und sie kommen erst wieder am nächsten Tag. Und dann fängt das mit dem Staub wieder von vorne an." Wie lange die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau noch dauern werden, ist unklar. Viele rechnen aber mit mehreren Jahren. Für die Menschen in Samadag heißt das: Der Staub wird sie weiter begleiten – genau wie seine Folgen.

Autorin: Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul

Stand: 06.08.2023 20:16 Uhr

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