Mo., 02.11.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Wählen, bis das Ergebnis passt?
Friedenswache im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Manchmal sind es ein paar Hundert, mal nur ein Dutzend. Immer mit dabei: Aysel Sağır. Sie hat den Bombenanschlag vor drei Wochen in Ankara überlebt. Die Friedenswache hier gibt es täglich, seit Erdogan im Juli seine Soldaten wieder in den Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK geschickt hat.
Aysel Sağır, Journalistin und Aktivistin, gibt zu bedenken: "Wir wissen, dass dieser Krieg nicht nur Kämpfer und Soldaten bedroht sondern alle: Schüler, Hausfrauen, die arbeitende Bevölkerung. Krieg ist eine Bedrohung für alle! Deshalb kommen wir hier zusammen."
Kampf gegen die Opposition
Sie diskutieren über Erdogan und wie er seine Macht ausbauen will, wie die Regierung den Kampf gegen die Kurden wieder anfachte und wie rigoros sie gegen Oppositionelle vorgeht: Tausende Polizeibeamte, Richter, Lehrer und Journalisten, die nicht regierungskonform waren, wurden entlassen oder versetzt.
Aysel schreibt für T24, ein noch offenes Internetportal, bei dem einige entlassene Journalisten untergekommen sind. Mittlerweile sind über 5000 politische Webseiten in der Türkei gesperrt.
Die Bilder vom Anschlag am 10.Oktober in Ankara haben sich tief bei ihr eingebrannt. Tausende wollten für Frieden demonstrieren, als zwei Bomben über 100 Menschen in den Tod rissen. Aysel Sağır war unweit der ersten Bombe und hat mit Glück überlebt.
Aysel Sağır sagt: "Ich wollte zum Explosionsort zurück, habe aber Wasserwerfer und Tränengas der Polizei gesehen. Es waren Schüsse zu hören. Als ich die Schüsse hörte und die Wasserwerfer sah, dachte ich nur, sie wollen uns alle töten. Es war die Polizei!! Erst später ist mir klar geworden, sie haben nur in die Luft geschossen."
Wie viele Oppositionelle glaubt auch sie an eine Mitschuld der Regierung: "Man hätte den Anschlag verhindern können, mit strengeren Kontrollen. In den Nachrichten hat man von Beteiligten erfahren, wie zum Beispiel vom Fahrer der Attentäter, dass die den Ablauf der Tat genauestens geplant haben. Viele sind überzeugt, dass staatliche Stellen darüber Bescheid wussten."
Die abgesetzte Bürgermeisterin von Cizre
Dass der Staat die Gewalt schürt, damit sich Erdogan als starker Mann präsentieren kann, glaubt auch Leyla Imret aus Cizre. Die Stadt ist Kurdenhochburg. Als Erdogan im Sommer den Kampf gegen die Kurden wieder aufnehmen ließ, lieferten sich türkisches Militär und PKK hier richtige Häuserkämpfe – neun Tage Ausgangssperre für die Bevölkerung.
Leyla Imret führt uns durch die Stadt: "Man sieht auch an den Häusern und Wänden, dass überall reingeschossen wurde, nicht nur auf der Straße. Hier leben Frauen und Kinder. Nach den neun Tagen hab ich auch gesehen, dass die Barrikaden hier gemacht worden sind."
Die 27-jährige Kurdin ist zwar hier geboren, aber in Bremen aufgewachsen. 2014 kam sie zurück und wurde zur Bürgermeisterin gewählt. Sie war voller Hoffnung auf Frieden, Aufschwung und Wohlstand für die ärmliche Region, hatte doch Erdogan den Kurden die Hand gereicht. Und mit einem Mal war der Friedensprozess zu Ende: "Am 8. September wurde ich aus dem Amt entlassen, und das habe ich wirklich auch vom Fernsehen mitbekommen. Ich habe noch nicht mal ein Schreiben bekommen. Es war sowieso Ausgangsperre, wir hatten kein Strom, kein Telefonnetz, wir hatten keine Verbindung nach draußen."
Insgesamt 23 kurdische Bürgermeister wurden in dieser Zeit ihrer Ämter enthoben, zum Teil festgenommen. Auch Leyla Imret hat Angst, deshalb drückt sie sich in Interviews sehr vorsichtig aus. Vor das Rathaus möchte sie auch nicht gehen. Stattdessen zeigt sie uns ihre Stadt, die aussieht, als könnten die Kämpfe jeden Moment wieder losgehen.
Cizre – eine Stadt im Ausnahmezustand, die Wirtschaft am Boden, Hotels haben geschlossen und Touristen verirren sich kaum noch in die Kurdengebiete. Was gibt es hier auch zu sehen, außer Zerstörung und Armut?
Das Land verlassen
In der angesagten Salt-Galerie in Istanbul ist auch der Bürgerkrieg in den 80er und 90er Jahren Thema einer Ausstellung. Hier arbeiten sie Zeitgeschichtliches auf, ecken an und setzen Themen auch gegen den Mainstream. Doch mehr und mehr macht sich Frustration unter Künstlern und Intellektuellen breit, weiß Kurator Vasif Kortun. Mit der Freiheit der Kunst ging es seit 2011 bergab, als Präsident Erdogan die absolute Mehrheit gewann.
Vasiv Kortun ist realistisch: "Es gibt viele Leute, die derzeit das Land verlassen. Und ich kann die, die weggehen, persönlich gut verstehen. Es ist viel schwieriger geworden, ein unabhängiger Künstler in der Türkei zu sein, seine Meinung zu sagen und auch dahinter zu stehen. Noch nie war es so schwierig wie heute."
Die Biennale in Istanbul hat heute ihren letzten Tag. Die weltweit beachtete Kunstausstellung, die selten so unpolitisch war. Vor zwei Jahren hatten noch die Gezi-Proteste großen Einfluss auf die Macher und jetzt, zwei Jahre später, gibt es zwar interessante Projekte, Bilder und Skulpturen, von Politik ist aber wenig zu sehen.
Bige Örer, Direktorin Biennale Istanbul, stellt fest: "Wir sehen schon, dass sich viele junge Künstler in der Türkei für Politik interessieren. Man muss sich aber Gedanken darüber machen, ob vielleicht bei vielen jetzt eine Selbstzensur stattfindet, sowohl bei den Künstlern als auch bei den Ausstellungsmachern."
Die Frustration über den Kurs der Regierung ist groß. Erdogan mischt sich in alles ein. Sein Streben nach der absoluten Macht hat die Gesellschaft tief gespalten: Es gibt nur ein Für oder ein Gegen Erdogan – keine gute Prognose für die Zukunft.
Autor: Martin Weiss, ARD Istanbul
Stand: 09.07.2019 23:55 Uhr
Kommentare