Mo., 18.09.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Türkei: Was will Erdoğan?
Ankara im Februar, 2017. Noch ist ein gemeinsames Pressegespräch mit anschließendem Handshake möglich. Aber nur sieben Monate später. Das Verhältnis Merkel Erdoğan - ein diplomatischer Scherbenhaufen. Das größte Problem aus Berliner Sicht: mehrere Deutsche sitzen in der Türkei wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
Darunter die Übersetzerin und Journalistin Meşale Tolu, der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und der Korrespondent der Tageszeitung die Welt Deniz Yücel.
Yücel sei Agent und Terrorist. Die Bundesregierung arbeite mit Nazimethoden, weil türkische Politiker in Deutschland nicht auftreten dürfen. Erdoğans Verbalattacken auf Berlin kennen kaum noch Grenzen. Was treibt den türkischen Staatspräsidenten an?
Gründung einer neuen Partei
Eine Frau, so heißt es in Ankara immer öfter, könnte Erdoğan erfolgreich die Stirn bieten. Meral Akşener, Nationalistin und frühere Innenministerin will im Oktober eine neue Partei gründen. Sie steht anders als Erdoğan für eine Trennung von Staat und Religion.
Der Journalist Orhan Uğuroğlu schreibt seit Jahrzehnten über nationalistische Parteien in der Türkei. Diese haben in der Vergangenheit in zahlreichen Koalitionen mitregiert. Viele nationalistische Wähler unterstützen jetzt noch Erdoğan. Dieser aber fürchte, so Uğuroğlu, er könnte wichtige Stimmen an Meral Akşener verlieren. Deshalb provoziere der türkische Staatspräsident die halbe Welt.
Journalist Orhan Uğuroğlu: "Um 2019 garantiert gewählt zu werden, sucht er mit Deutschland, mit Österreich, mit den Niederlanden, mit der EU, mit den USA Streit. Mit Syrien und Irak gab es sowieso schon dauernd Ärger. Dadurch schürt Erdoğan nationalistische Gefühle."
Angespanntes Verhältnis
Akşener will vor der Parteigründung in wenigen Wochen keine Interviews geben. Sie bedient nationalistische Bedürfnisse, will aber auch die konservative nicht religiöse Mitte ansprechen. Ihr engster Vertrauter, Koray Aydın, ist bei öffentlichen Auftritten stets an ihrer Seite. Aydın sagt, die Akşener Partei habe ein Potential von 20%. Er glaubt, selbst viele nationalistische Wähler hätten inzwischen genug von Erdoğans Attacken gegen Ausland.
Koray Aydın: "Wir haben einen Präsidenten, der mit der ganzen Welt streitet und jedem etwas an den Kopf wirft. Wir sagen hingegen, wir müssen unsere eigenen Probleme lösen und gegen das schlechte Image unseres Landes etwas unternehmen."
Aus Erdoğans Umfeld im Präsidentenpalast heißt es, die 20% Wählerpotential für Akşener seien stark übertrieben und Erdoğans Attacken auf Deutschland hätten nichts mit der Politikerin zu tun. Der Grund für Erdoğans Angriffe sei vielmehr, Berlin unterstütze Terroristen.
Erdoğan macht den in den USA lebenden Islamprediger Gülen und seine Anhänger für den Putschversuch im vergangenen Jahr verantwortlich. Wichtige Gülen-Leute seien nach Deutschland geflohen, beklagt Ankara. Darunter auch der für den Putschversuch Hauptverdächtige Adil Öksüz. Beweise gibt es nicht.
Inhaftierung von Deutschen
Ein besonderer Dorn im Auge Erdoğans sind Veranstaltungen wie diese in Hamburg. Die Bundesregierung, so Ankara, lasse die auch in Deutschland als Terrororganisation eingestufte kurdische Miliz PKK ungehindert gewähren. Das türkische Militär befindet sich seit Jahrzehnten in einem blutigen Krieg mit der PKK. Der türkische Vize Premier Mehmet Şimşek wirft Berlin vor, Terroristen nutzten Deutschland als Rückzugsraum.
Mehmet Şimşek, Vize Premier: "Wenn unsere Freunde uns so bedrohen, in dem sie sichere Häfen zur Verfügung stellen, das hat Einfluss auf die politische Sprache."
Mit dem Kampf gegen den Terror rechtfertigt die türkische Regierung auch die Inhaftierung von Deutschen. Berlin spricht von politischen Geiseln. Ein vom türkischen Staatspräsidenten vor kurzem erlassenes Dekret sorgt für Irritationen. Demnach hat Erdoğan nun die Macht in der Türkei Inhaftierte Ausländer auszutauschen.
Orhan Uğuroğlu: "Wir kennen die eigentliche Absicht hinter dem Dekret nicht. Aber mit Diplomatie und Recht hat das nichts zu tun. Wenn jemand schuldig ist, dann ist er schuldig. Wenn nicht, dann nicht. Ich gebe dir den, du gibst mir jenen. Da braucht man ja kein Gericht mehr."
Aus Berlin kam bereits der Vorwurf, Erdoğan wolle politische Gefangene austauschen. Erdoğans Sprecher streitet das ab. Anschuldigungen, Missverständnisse, Enttäuschungen. Das ist inzwischen übrig vom Verhältnis Berlin - Ankara.
Autor: Oliver Mayer-Rüth/ARD Studio Istanbul
Stand: 31.07.2019 15:46 Uhr
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