Mo., 08.02.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Ukraine: Überleben in der Grauen Zone
"Dieses Land ist mir lieb und teuer", sagt Volodymir Stayura, Soldat in der 93. Brigade der ukrainischen Armee. In zwei Wochen nur könnten sie dieses Land befreien, wenn die Regierung in Kiew sie denn ließe: "Seit Jahrhunderten ist Russland ein Aggressor hier. Und die Ukraine kämpft schon lange gegen Russland. Jetzt gibt es eine historische Chance den Sieg zu erringen, und uns für immer von Russland zu trennen und die Ukraine im europäischen Haus zu aufzubauen."
"Ameisenhügel", so nennen sie diese Stellung der Armee, direkt an der Front. Wehrpflichtige gibt es hier wenige. Fast alle sind aus freien Stücken gekommen: ein Möbelbauer, ein Musikstudent, ein Barmann – und die Bibliothekarin Julia.
Den Sieg genommen?
Regelmäßig, sagt Julia, werde geschossen: "Wenn die Europäer nicht all diese Friedenpläne und Abkommen angeboten hätten, dann wäre der Krieg letzten Sommer vorbei gewesen, und wir wären zuhause. Stattdessen gab es dieses Minsker Abkommen – ein Abkommen mit Terroristen."
Gestern wurden in der Nähe zwei Soldaten getötet, drei verwundet. Der Mann mit dem Kampfnamen Riks ist selbst russischer Herkunft. Mit seinen Verwandten in Russland hat er es aufgegeben, zu sprechen. Mit den Einwohnern in Donezk hat er Mitgefühl. Aber die Donezker seien in der Vergangenheit steckengeblieben, meint er: "Warum Donezk so depressiv ist? Weil das Sowjetsystem dort konserviert wurde. Die sind nie auf den Geschmack der Freiheit gekommen. Sie arbeiten wie Sklaven dort, in ihren Bergwerken, sie sehen nichts, sie wissen nichts."
Die da drüben werden uns nie akzeptieren, sind die ukrainischen Soldaten überzeugt: "Für die sind und bleiben wir Nazis, Drecksjuden, Faschisten."
Die letzten Bewohner von Optyne
Opytne war ein Tausend-Seelen-Dorf vor dem Krieg. Noch ein paar Dutzend harren aus, die Alten, die hier sterben wollen. Es gibt keinen Strom mehr, keine Heizung mehr, kein fließend Wasser. Nur noch einen Brunnen im Garten hat Tamara Kharugova. Sie kann kaum glauben, dass wir aus Deutschland hierhergekommen sind: "Sie schießen und schießen. Man sagt, Poroschenko hätte was unterschrieben, aber sie schießen einfach weiter – jeden Tag. Das macht mich krank. Ich kann es nicht mehr ertragen: in meinem Alter keinen Frieden…"
Ihr Nachbar lebte 50 Jahre in seinem liebevoll gebauten Häuschen. Eine Granate landete in seinem Garten, Teile davon gruben sich in seine Schulter ein. Warum bauen die ukrainischen Soldaten das Dorf nicht auf?
Anatoly Sidolenko sagt: "Weil sie uns nicht brauchen. Wir sind eine Last für sie, ehrlich gesagt. Der Krieg hier wird so bald nicht enden. Also, wenn wir das international betrachten: in Syrien dauert der Krieg wie lange – fünf Jahre? Ja, fünf Jahre! Im Irak: seit 2003 – und da herrscht immer noch keine Ordnung. Was noch? Na, nehmen wir Russland, Tschetschenien: Zehn Jahre dauerte das."
Der Alte zählt immer weiter auf. Und wenn Syrien zu Ende sei, dann werde es in der Ukraine noch heißer, ist er überzeugt.
Vor dem Dorf: Das Gerippe des Flughafens. Drüben beginnt Donezk, die sogenannte Volksrepublik.
Auf der anderen Seite: schneidige Militärs
"Freie Menschen in einem freien Land, Gleiche unter Gleichen" – sie singen die Hymne Neurusslands – die neue Offiziersschule. Lehrer Yuri Matveyev ist aus Ulyanovsk, Russland, ein Militär der 31. Brigade bei den russischen Luftlandetruppen. Später wurde er Kommandeur der Separatisten – natürlich freiwillig, ergänzt er schnell: "Einen starken Willen müssen die Männer haben. Daraus entsteht dann der Kampfgeist, und moralische Qualitäten. Die Hauptsache ist, dass es einen Willen gibt. Dann gibt es auch einen Weg."
Viele freiwillige Kämpfer seien nun in Syrien, erzählen die Lehrer. Auch deshalb ist der Nachwuchs umso wichtiger. Oleg Pashkevitsch kam zur Schule, weil sein Vater in den Krieg zog – und getötet wurde: "Nach dem, was mit meinem Vater passiert ist habe ich eine andere Einstellung zu den Ukrainern. Vielleicht ändert sich meine Meinung über sie irgendwann, aber ich hoffe nicht, weil – es ist sehr schwer, ohne Vater zu sein. Wir gehen da nicht hin, wir reden mit ihnen nicht, ich hab keine Freunde dort."
"Den Ukrainern den Kopf waschen"
Eine Mauer im Kopf zwischen Ostukrainern und Ukrainern, zwischen Russen und Ukrainern.
Yuri Matveyev, der russische Offizier in Donezk, sieht die Beziehung recht einfach: "Die Ukrainer waren und bleiben ein Brudervolk für uns. Das Problem ist der Kopf: Wenn man ihnen den Kopf ordentlich wäscht, dann wird alles so wie früher."
Die Hoffnung, sich Russland anzuschließen, ist immer noch groß: "Immerhin zahlen wir hier schon in Rubel", erzählen sie. Aber kann Russland der jungen Republik weiter so viel helfen – jetzt, wo es in der Rezession steckt? Yuri Matveyev sieht kein Problem: "Es gibt keine Wirtschaftskrise in Russland. Das ist alles erfunden. Russland wird hier genau so viel helfen wie zuvor. Russen lassen Russen nicht im Stich."
Autorin: Golineh Atai, ARD Moskau
Stand: 11.07.2019 02:12 Uhr
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