So., 11.12.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Stromausfälle und der Winter
Es sollte ein kurzer Überfall auf das Nachbarland werden. Mittlerweile geht der Krieg in den zweiten Winter. Der Beschuss auf die Infrastruktur war am Montag besonders heftig. Die russischen Militärs nehmen bewusst Strom- und Wasserversorgung ins Visier. Die Stromversorgung im Land ist massiv unter Mitleidenschaft gezogen. Elektrizität gibt es oft nur für ein paar Stunden. Rund die Hälfte von Kiew hat derzeit gar keinen Strom. Wer kann, hilft sich mit Generatoren. In Kiew ist der erste Schnee gefallen.
Kinderkrankenhaus im Krisemodus
Chefarzt Oleh Kornijtschjuk hat ein mulmiges Gefühl, wenn er auf seine Station in einem Kinderkrankenhaus in Kiew. Seit die Stromversorgung in der Stadt immer wieder ausfällt. Hier werden Frühchen und Neugeborene mit schweren Komplikationen vorsorgt. Die meisten der Babys brauchen künstliche Beatmung, Maschinen halten die überlebenswichtigen Funktionen der kleinen Körper am Laufen. "Alleine können Babys, anders als Erwachsene, noch keine eigene Körperwärme produzieren – die anatomischen Fähigkeiten fehlen noch. Bei Stromausfall könnten wir die Kinder einige Zeit manuell beatmen, aber im Endeffekt würde es trotzdem tödlich enden."
Zwar sind Krankenhäuser in Sachen Strom extra abgesichert. Aber dieses Kabel führt zu den eigens von ihm angeschafften Diesel-Generatoren. Sicher ist sicher. Seit die russische Invasion begonnen hat, sind sie hier im Krisenmodus. "Wissen sie, es ist wie im Film 'Armageddon' über den Weltuntergang – als nähme der Winter kein Ende", sagt Kinderkrankenschwester Viktoria Paschjewskaia. "Mit der Zeit ist einiges etwas besser geworden, denn Elektriker haben vieles repariert. Wir haben die Hoffnung, dass das Elend doch noch ein Ende nimmt."
Stromausfall während der Zahnbehandlung
Ein paar Kilometer weiter in einer Zahnarztpraxis nahe des Zentrums von Kiew. Auch hier kämpfen sie mit den häufigen, oft unangekündigten Stromabschaltungen Die Patienten wissen, dass sie nur behandelt werden können, wenn es gerade auch Strom gibt. Manche mussten wiederkommen. Das Verständnis ist aber groß. Kriegs-Winter-Modus! "Strom, das ist das geringste Problem", meint Patient Vasyl. "Heutzutage ist es ja schrecklich, dass die Menschen im Krieg sterben. Ob wir Strom haben oder nicht, das ist egal. Wir warten einfach zwei drei Stunden. Ist nicht schlimm, solange alle gesund sind."
Heute gibt es Strom, der Patient hat Glück und bekommt eine Füllung. Aber gestern saß ein junger Mann, ein Soldat, mit Zahnschmerzen auf diesem Stuhl. Mitten in der Behandlung – Blackout. "Wir saßen da und warteten", erzählt Zahnarzthelferin Julia Tymoschtschjuk. "Auch der Patient wurde nicht ungeduldig, weil er wusste, dass er diese Behandlung braucht. Er hat uns erzählt, dass er in einer Woche an die Front muss, also haben wir versucht ihm so schnell wie möglich zu helfen." Eigentlich kann nichts die erfahrene Zahnärztin Olha Schetynina aus der Ruhe bringen. Aber dass sie ihren Patienten nicht mehr verlässlich helfen kann, das macht ihr zu schaffen. Aber Ohne Strom ist Olha machtlos. Und einen Generator hat sie nicht. "Wenn es in der Praxis keinen Strom gibt, dann kommen wir gar nicht. Wir bleiben zuhause, alle Familien bleiben daheim. Also ich zum Beispiel wohne mit meinem Mann in der 16 Etage."
Und das mit dem 16. Stock ist ein großes Problem. Denn ohne Strom auch kein Aufzug. Olhas Mann hat Herzprobleme, er braucht den Aufzug. Dieser Winter ist hart für das Ehepaar. Nicht einmal mehr das Kochen ist selbstverständlich. "Wenn es Strom gibt, dann kochen wir sofort alles auf einmal, zur gleichen Zeit, ob Vor- Haupt oder Nachspeise. Wenn es keinen Strom gibt, aber ich muss etwas kochen, dann kann ich das auch nachts machen. In der Nacht gibt es eigentlich immer Strom. Entweder von 23 Uhr an oder Mitternacht bis ungefähr drei Uhr morgens".
Wärmestuben heißen "Punkte der Unbesiegbarkeit"
Klarkommen mit dem Mangel – an Wärme, an Elektrizität. Die Regierung hat dafür Wärmestuben installiert. "Punkte der Unbesiegbarkeit" heißen die Zelte, die es überall in der Ukraine gibt. Hier kann man das Handy aufladen, einen heißen Tee trinken – kurz durchatmen. Auch am zentralen Markt in Kiew haben sie sich auf einen Winter mit Blackouts eingestellt. So gut es eben geht mit Diesel-Generatoren. Sie reichen für die Kühlung der Waren, aber nicht für Licht und nicht für Wärme.
Zurück auf der Neugeborenen-Station. Seit 35 Jahren kümmert sich Oleh Kornyjtschjuk um Babys, das ist sein Leben. "Ich hätte schon vor langer Zeit nach Deutschland gehen können. Meine Verwandten leben dort seit über 35 Jahren. Meine Familie ist bei ihnen, nachdem sie eineinhalb Monate unter russischer Besatzung in der Nähe von Kiew durchgestanden hat. Aber darüber denke ich gar nicht nach. Denn wer soll all den Kindern helfen, die so dringend Hilfe brauchen?" Oleh wird bleiben. Gerade organisiert er Spenden für sogenannte Transportinkubatoren – nur so kann er die Kleinen bei massiven russischen Luftangriffen in den Schutzkeller bringen.
Autoren: Judith Schacht und Vassili Golod, ARD Kiew
Stand: 13.12.2022 16:28 Uhr
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