Mo., 07.09.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Ungarn: Zwischen Abschottung und Hilfsbereitschaft
"Warten Sie, warten Sie, das Kind ist krank! Bitte nicht schieben!" - mit solchen Szenen hat Balasz Szalai täglich zu tun. Er ist freiwilliger Helfer an der ungarisch-serbischen Grenze. Eigentlich programmiert er Computersoftware, doch seit die Flüchtlingskrise in seinem Land eskaliert ist, kommt er jeden Tag hier her. "Die ungarische Regierung ist mit der Situation überfordert. Sie sollten Sozialarbeiter einsetzen, nicht nur Polizei, die Polizei kommuniziert nicht mit den Flüchtlingen", sagt er.
Misstrauen gegenüber der Polizei
Manchmal ist es hier besonders schlimm: Die Polizei umringt die Flüchtlingsgruppe, die sich eingeschüchtert zusammendrängt. Einige wollen in den Bus, andere haben Angst, dass sie sie in ein Camp bringt. Es herrscht Chaos, Balasz versucht zu vermitteln. Eine Gruppe junger Syrer, offensichtlich gezeichnet von der Flucht, weigert sich in den Bus zu steigen. Das Misstrauen gegenüber der Polizei ist zu groß. "Ich will nicht ins Camp, dort machen sie uns fertig, schlagen uns. Denn da ist keine Presse. Wir wollen unsere Rechte, wir sind Menschen, keine Tiere. Wir haben nichts falsch gemacht. Ich bin Ingenieur, er ist Ökonom, wir haben nichts falsch gemacht, wir wollen nur leben."
"Geld für eine Einwanderungssystem und nicht für einen Zaun"
Balasz nimmt uns mit an die Stelle, wo die Flüchtlinge die europäische Union betreten. Ein 175 Kilometer langer Stacheldrahtzaun riegelt Ungarn von Serbien ab. "Sehen Sie diesen Zaun? Dafür haben sie so viel Geld ausgegeben, das wäre genug für ein gutes Einwanderungssystem."
Durch den Grenzzaun verläuft eine Bahnlinie. Täglich kommen Hunderte Menschen zu Fuß hier durch. Es ist das Ende der Westbalkanfluchtroute - ab hier sind sie in der EU. "Wenn sie sehen wie es hier aussieht, die Umstände, den Müll, das Chaos, das ist sehr traurig für mich und sehr traurig für die Flüchtlinge. Sie denken so ist Europa, aber eigentlich ist es so gar nicht", sagt Balasz. Er versucht, die Menschen willkommen zu heißen. Aber der Ansturm ist zu groß.
Notdürftige Lager im Freien
Tausende Flüchtlinge machen sich in Serbien in Richtung Grenze auf. Ein paar freiwillige Helfer sind hier zu wenig. Einige Stunden später - es ist nachts und das Wetter schlägt um. Manche Familien sind zu erschöpft um weiterzulaufen. Notdürftig schlagen sie ihr Lager direkt an der Bahnlinie auf. Nutzen das wenige Licht der Kameras, doch auch die Journalisten sind irgendwann weg. Einige Gruppen wandern weiter durch die Nacht. Nach ein paar Hundert Metern treffen wir sie wieder - hinter einer Polizeisperre.
Die Flüchtlinge wollen zu Fuß nach Budapest, doch die Polizei will sie in das naheliegende Camp lotsen. Aufregung. Ein junger Mann, der gut englisch spricht, versucht zu übersetzen und die Menge zu beruhigen. "Versprechen Sie, dass wir nach der Registrierung nach Budapest weiterreisen dürfen", sagt er. Die Polizei zeigt sich hilfsbereit, die Presse darf als Begleitung mitkommen. Trotzdem ist das Vertrauen vieler Flüchtlinge weg.
Hilfe vom Kamerateam für einen Kollegen
Während wir berichten, tauchen plötzlich zwei kleine Mädchen neben unserer Kamera auf. Sie bringen eine Haarbürste vorbei, wollen uns bei den Aufnahmen helfen. Sie sind mit ihrem Vater auf der Flucht und wollen in die Niederlande, dort ist auch ihre Mutter. Als wir mit der Familie ins Gespräch kommen stellt sich heraus, dass der Vater ein Kollege ist. Er hat in der syrischen Stadt Raqqa als Kameramann gearbeitet. Dann erwischt ihn die Kugel eines Scharfschützen. Er nimmt seine beiden Töchter und flieht. Auf der Fahrt übers Meer verliert er sein Geld und sein Handy. Jetzt hat er nichts mehr, Essen und eine Decke bringt unser Kamerateam.
Die Temperaturen fallen in dieser Nacht unter 10 Grad. Balazs will ihm erklären, dass er im Camp schlafen soll, dort gibt es wenigstens Betten, doch der Mann versteht ihn nicht und hat Angst. Er will die Nacht mit seinen Töchtern hier verbringen – auf der Straße. Balasz wünscht sich, dass mehr Ungarn helfen - ohne Vorurteile. "Wenn die Ungarn genug über diese Menschen wüssten, könnten sie ihre Meinung ändern. Und sie wären hier endlich willkommen."
Autorin: Anna Tillack
Stand: 09.07.2019 07:44 Uhr
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