"Weltspiegel"-Interview mit Korrespondentin Sandra Ratzow
Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Überbehütung von Kindern hier in den USA ist eines der Topthemen für viele deutsche Eltern, die hier in Washington neu ankommen. Es fällt im Stadtbild, aber auch in den idyllischen Vororten sofort auf, dass man nachmittags nach der Schule keine Kinder sieht, die mit Freunden allein ohne die Begleitung eines Erwachsenen unterwegs sind. Außerdem müssen Schüler, sobald drei Regentropfen fallen oder es geschneit hat, die Pausen drinnen verbringen. Sie könnten ja ausrutschen. Und im Kindergarten sind zum Beispiel keine vorne offenen Sandalen erlaubt. Die Kinder könnten sich ja die Zehen verletzen.
Auch weit verbreitet: Das Heraufbeschwören der "stranger danger", der Angst vor Fremden. Vor einem Schulausflug erklärte die Klassenlehrerin meines Sohns – zum Beispiel – den Kindern, dass sie niemals Fremde auch nur ansprechen dürfen, höchstens solche in Uniformen …
Was waren die Schwierigkeiten bei der Recherche?
Die größte Herausforderung war es, Eltern vor die Kamera zu bekommen. Das war eine monatelange Recherche. Schließlich gibt es keinen "Club der Helikoptereltern", den man einfach anrufen kann. Keiner sieht sich ja selbst so. Eltern, die ihre Kinder sehr behüten, wollen außerdem dabei nicht unbedingt gefilmt werden. Vielleicht auch, weil ihnen klar ist, dass man das sehr kritisch sehen kann. Insofern mussten wir mit extrem vielen Absagen leben.
Haben die Erzieher und Pädagogen, von denen viele inzwischen mit Kameras überwacht werden, damit überhaupt kein Problem?
Erstaunlicherweise nicht. Viele sagen: Wir haben ja nichts zu verbergen. Außerdem fällt mir auf: Die USA sind ein Land, dass neuen Technologien eher positiv als kritisch gegenüber steht. Schon in Kita und Vorschule wird der Umgang mit einem Tablet gelernt. Zudem ist Datenschutz in den USA nicht so ein wichtiges Thema wie bei uns.
Gibt es eine Erklärung für diesen Kontrollwahn?
Es gibt nicht den einen Grund. Es ist eine Mischung. Ein beliebter Ausspruch hier: "Better safe than sorry" – also: "Lieber auf Nummer sicher gehen, als das es einem hinterher leid tut." In den 80er Jahren gab es ein paar prominente Fälle von Kindesentführungen, über die exzessiv im Fernsehen berichtet wurde. Danach wurden auf vielen Milchkartons Bilder von vermissten Kindern gedruckt. So kann man sich in seine Angst auch hineinsteigern. Hinzu kommt, dass in Amerika Sammelklagen mit Millionenforderungen an Schadenersatz nicht unüblich sind. Da geht man doch auch als Kita oder Schule lieber auf Nummer sicher.
Und noch was: Kinder der amerikanischen Mittelklasse sind längst auch zum Projekt geworden. Es sind statistisch gesehen gerade die besonders gut gebildeten Eltern, die dazu tendieren, ihre Kinder über zu behüten. Diese Eltern wollen sicher gehen, dass absolut nichts schief geht auf dem Weg zum Erfolg!
Können Sie abschätzen, was diese Überfürsorge mit den Kindern macht?
Natürlich gibt es auch hier in den USA viele Pädagogen, die davor warnen, dass Kinder so kein Selbstvertrauen bekommen und nicht lernen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Gerade die Universitäten klagen darüber, dass selbst viele Highschool-Absolventen mit Bestnoten nicht wissen, was sie wollen, weil ihre Eltern ihnen doch ständig zur Seite stehen. Ich persönlich finde es für ein Einwanderungsland wie die USA gesellschaftlich höchst bedenklich, wenn Kindern von klein auf an eingetrichtert wird, dass Fremde und die Welt da draußen grundsätzlich böse sind und man keinem trauen darf.
Könnten Sie sich vorstellen, dass diese Art der überfürsorglichen Erziehung auch in Deutschland selbstverständlich wird?
Sind wir nicht längst auf dem Weg dahin? Natürlich sind manche Dinge wie die Internet-Kameraüberwachung in Kindergärten bei uns nicht vorstellbar. Aber in anderen Bereichen nähern wir uns doch längst der amerikanischen Realität an. Haben unsere mit stoßdämpfenden Gummimatten ausgelegten Spielplätze noch was mit einem Abenteuer zu tun? Auch bei uns gehen immer weniger Grundschüler allein zur Schule. Und auch bei uns werden schon Kinder mit einer Handy-App überwacht. Der Blick nach Amerika ist ja oft ein Blick auf Trends, die auch uns erreichen. Wir müssen uns fragen, inwieweit wir das wollen.
Sie sind ebenfalls dreifache Mutter – gab es Momente, in denen Sie sich sagten: "Das würde ich eigentlich auch ganz gern anwenden?"
Die Überwachung mit Webcams in der Kita ist definitiv etwas, was ich ablehne. Da vertraue ich auf meine Menschenkenntnis und ich sehe ja, dass meine Tochter glücklich nach Hause kommt. Das reicht mir. Aber in ein paar Jahren ist mein älterer Sohn in der Pubertät und der Einfluss durch andere wird zunehmen. Wer weiß, vielleicht gerate ich dann doch in Versuchung …
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