Mo., 16.01.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Venezuela: Der tiefe Sturz
Der einzige Markt, der in Venezuela blüht, ist der Schwarzmarkt. Alles ist knapp in dem lateinamerikanischen Land, das immer noch reich an Öl ist, aber am Rande des Ruins steht. Gelähmt durch einen politischen Streit zwischen linker Regierung und rechter Parlamentsmehrheit. Und regiert von einer offenbar unfähigen Politikerklasse, steuert Venezuela immer tiefer in die Krise. Je größer der Mangel, desto größer auch die Gewalt. Kein Tag, an dem in den Stadtvierteln von Caracas nicht dutzendfach gemordet wird. Oft sind es politisch-motivierte Verbrechen.
Das 10.000-Einwohner Städtchen Barlovento im Norden Venezuelas ist arm und ländlich. Zwei Stunden weg von der Hauptstadt Caracas. Mit der Ruhe ist es vorbei seit Polizisten Männer aus dem Dorf verhaftet haben und niemand genau weiß, was dann passiert ist. "Am 13.Oktober wollte mein Mann Yulmar Brot kaufen gehen, das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe", erzählt Carmen Quintana. "Zwei Tage lang haben wir ihn überall gesucht, bis die Polizei mir von seinem Handy aus geschrieben hat, sie hätten ihn mitgenommen. Aber sie spielten mit uns, sagten nicht, wo sie ihn festhalten."
Die Polizei verbreitet Angst im Land
Ihr Mann, Yulmar Rengito, war einer von 20 jungen Männern, die innerhalb weniger Tage rund um Barlovento, von der gefürchteten Polizeieinheit OLP, verschleppt wurden. Fast einen Monat danach tauchte einer wieder auf und führte die Behörden zu einem Massengrab. Darin fand man zwölf der Vermissten. "Der Zeuge sagte, er habe fliehen können, als die anderen Männer getötet wurden. Mir hat er gesagt, er habe meinen Mann kurz vorher noch lebend gesehen, aber wüsste nicht, was aus ihm geworden sei. Es sind nicht alle Toten aus dem Grab identifiziert, aber mein Mann war ganz sicher nicht dabei."
Seit zwei Jahren verbreitet die OLP, die sogenannte Einheit zur Befreiung des Volkes, Angst im ganzen Land. Die Truppe besteht aus mehr als tausend schwer bewaffneten Uniformierten, die angeblich die ausufernde Kriminalität in Venezuela bekämpfen sollen. Gleichzeitig stieg die Verbrechensrate immer weiter. Scheinbar wahllos kommt die OLP in Dörfer oder Stadtviertel und verschleppt dutzende junge Männer – Verdächtige wie es heißt.
Erbitterter Machtkampf
Roberto Briseño, Chef des Instituts für Verbrechensbekämpfung in Caracas hat mehrfach versucht, die Regierung von dieser Form der Polizeigewalt abzubringen. "Sie stürmen Häuser, holen alle Männer raus, angeblich nur Verbrecher, und bringen sie an unbekannte Orte. Später wird dann bekannt, dass die Verhafteten getötet wurden. Gefallene nennt die Regierung die Opfer, so als wären wir in einem Krieg." Die OLP sei eine Todesschwadron, ähnlich wie sie früher in Lateinamerika von rechtsgerichteten Militärdiktaturen eingesetzt wurden, sagt der Experte. Jetzt brauche auch die sozialistische Regierung Venezuelas solche Mördertruppen. In den zwei Jahren, in denen es die OLP gibt, sagt Roberto Briseño, habe sie 5.000 Menschen getötet. "Die Polizei nimmt die Justiz selbst in die Hand, ohne Prozess, ohne Verteidigung. Die Sicherheitskräfte vollstrecken die Todesstrafe in diesem Land, in dem es keine Todesstrafe gibt."
Hintergrund vieler dieser Morde dürften politische Interessen sein. In Venezuela herrscht ein erbitterter Machtkampf zwischen der sozialistischen Regierung von Präsident Maduro und der konservativen Opposition. Während die Inflation auf 800 Prozent gestiegen ist und die Menschen nicht mehr wissen, wo sie Lebensmittel herbekommen sollen, werfen sich die Politiker gegenseitig Unfähigkeit und Lügen vor. Von dem Vorwurf, sie würden das eigene Volk mit Gewalttaten der OLP einschüchtern, wollen die Sozialisten nichts hören. "Solche Lügen streut nur die Opposition", meint Loengri Matheus, Abgeordneter der Vereinigten Sozialistischen Partei, PSUV. "Viele dieser Herren der Opposition gehören zur Mafia, die stecken mit den Verbrecherbanden in diesem Land unter einer Decke. Die OLP rottet nur das Schlechte in diesem Land aus. Und mit dem Fall in Barlovento hat sie gar nichts zu tun."
Wo ist der Mann von Carmen Quintana?
Carmen Quintana musste nach dem Verschwinden ihres Mannes zu ihren Großeltern ziehen. Ohne sein Einkommen wird es schwer für die Familie. "Meine Kinder fragen mich jeden Tag nach ihrem Vater. Ich will selbst endlich eine Erklärung. Die sollen den Fall besser untersuchen, ich will wissen wo er ist, ob tot ist oder noch lebt. Und wenn er tot ist, sollen sie ihn mir wenigstens zurückgeben, damit ich ihn beerdigen kann." Am Freitag, noch während der Recherche zu diesem Film, wurde bekannt, dass 12 Beamte der OLP wegen des Massakers von Barlovento angeklagt werden sollen. Der Vorwurf: Mord an mindestens 12 Männern. Von Yulmar Rengito, Carmens Mann aber, fehlt weiterhin jede Spur.
Ein Bericht von Peter Sonnenberg (ARD-Studio Mexiko).
Stand: 13.07.2019 17:03 Uhr
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