Mo., 26.10.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Vietnam: Der staatliche Briefübersetzer
Das Postamt von Ho-Chi-Minh-Stadt, ehemals Saigon, ist ein ehrwürdiges Gebäude – mit ehrwürdigen Mitarbeitern, zum Beispiel Herrn Duong Van Ngo. Offiziell ist er längst in Rente, doch er kommt weiterhin jeden Tag, um vietnamesische Briefe zu übersetzen. Früher waren das Liebesbriefe gebrochener Herzen, die nach Kalifornien oder Texas gingen, heute liegen auch englische und französische Wirtschaftskorrespondenzen auf seinem Tisch. Denn Vietnam lässt die schmerzhafte Vergangenheit ruhen und orientiert sich Richtung Westen. Der 86-jährige Übersetzer, der noch immer mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, wird also auch in Zukunft genug zu tun haben. Ein Portrait von Philipp Abresch, ARD Singapur.
Oft verlangt: "Ich liebe dich"
Mit geschwungener Handschrift, elegant und schön – so verbindet Duong van Ngo Menschen auf der ganzen Welt. Der ältere Herr ist Brief-Übersetzer im Hauptpostamt von Ho Chi Minh-City. Der letzte seiner Art. "Die meisten Leute kommen wegen der Liebe. Da gibt es jemanden auf der Welt, den sie sehr mögen. Der spricht eine andere Sprache, dann kommen sie zu mir, mit einem Brief auf vietnamesisch. Und ich übersetze dann."
Tokyo, Moskau, Washington. Trotz all der Uhren scheint die Zeit hier stehen geblieben im Postamt von Ho Chi Minh City, dem ehemaligen Saigon. Herr Ngo ist fast so alt wie das Haus. 86 Jahre. Aber noch immer sitzt er täglich auf seiner Holzbank und schreibt und schreibt. Französisch hat er mit sieben in der Schule gelernt, englisch erst mit 36. Als im Krieg die Amerikaner kamen. Als die Soldaten Jahre später verschwanden, blieben viele gebrochene Herzen zurück. Und Herr Ngo machte sich an die Arbeit. "Ich habe schon zig mal ‘Ich liebe Dich’, geschrieben. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr, wie oft. Ich nehme einfach den Brief und mache mich an die Arbeit. Viele besuchen mich regelmässig. Die Mutter, die ihren Enkeln in Paris schreibt zum Beispiel, die geht mir besonders ans Herz."
Geschliffener und formvollendeter Stil
Was genau in den Briefen steht, darüber schweigt Herr Ngo sich aus. Er sagt immer, “Ach, das hab ich schon vergessen”. Und macht sich wieder ans Werk. Auch Geschäftskorrespondenz, Urkunden und Rechnungen übersetzt Herr Ngo. Sorgfältig und präzise. "Wenn ich Herrn Ngo nicht hätte, dann müsste ich zum Übersetzungsbüro", meint Hoang Ngoc Hanh, eine Kundin von Duong van Ngo. "Aber die sind immer voll. Und die übersetzen nicht so gut. Onkel Ngo ist einfach super. Ein Supermann."
Um Punkt acht in der Früh hat Herr Ngo mit der Arbeit begonnen. Um Punkt zwölf ist Mittag. Manche Briefe, verrät Herr Ngo unterwegs. die waren so schön, die hätte er am liebsten behalten. "Aber natürlich übersetze ich nur und dann schicken wir den Brief ab." Früher gab es fünf offizielle Briefeschreiber im Postamt. Einer ist noch übrig: Herr Ngo. Er braucht manchmal eine dicke Lupe. Die Augen sind schlechter geworden. Aber die Arbeit macht ihm noch immer Spass. Herr Ngo pflegt eine elegante Sprache. “Merci beaucoup” würde ihm nie aus dem Füller fliessen. Aber: “Je vous remercie bien”, das schon. Es klingt geschliffen formvollendet. Sein besonderer Stil hat Herrn Ngo bekannt gemacht. Und beliebt. Selbst bei denen, die längst keine Briefe mehr schreiben. Und auch keine Übersetzung brauchen. "Wir Jüngeren sprechen ja alle englisch", sagt die Touristenführerin Nguyen Huynh Huong. "Meine Eltern könnten also auch einfach mich fragen, sagt die Touristenführerin. Aber sie kommen lieber hierhin zu Herrn Ngo. So einen Menschen gibt es nur einmal in Vietnam.
Um halb vier packt Herr Ngo alles zusammen. Auch sein Lieblingsbuch, der letzte Mohikaner. Feierabend! Zehn Kilometer täglich radelt Herr Ngo durch die Strassen Saigons. Von zu Hause zur Post. Von der Post zurück nach Hause. Noch keinen Tag hat er sich davon abhalten lassen. "Aufhören? Daran hab ich noch nie gedacht. Ich werde so lange arbeiten, wie der Himmel es mir erlaubt. Briefeschreiben ist ja viel schöner, als nur zu Hause rumzuhängen."
Zu Hause wartet eine große Familie
Dabei wartet zu Hause eine ganze, grosse Familie. Herr Ngo hat zwei Söhne, vier Töchter und zig Enkel. Mit seiner Frau Kim Anh ist er seit 60 Jahren glücklich verheiratet. "Mein Mann ist nicht reich", sagt Nguyen Kim Anh, "er ist auch nicht besonders hübsch. Aber ich liebe ihn. Am Tag der Heirat hat er gesagt, wir werden uns niemals vor den Kindern streiten. Lass uns lieber Briefe schreiben. Und wenn der Ärger verflogen ist, dann verbrennen wir sie."
Briefeschrieben – in guten wie in schlechten Zeiten. Ist das vielleicht das Geheimnis einer erfüllten Ehe? Herr Ngo, der Liebesbriefschreiber, er muss es doch wissen! "Es gibt gute Menschen und schlechte. Und ich kann nur raten. Wenn Du Dich fürs Leben bindest, such Dir einen von den Guten." Duong Van Ngo hat so viele Freundschaften besiegelt, Romanzen und Affären beflügelt. Er will fleissig weiter schreiben. Für alle die auch in Zukunft an Liebesbriefe glauben.
Stand: 09.07.2019 22:37 Uhr
Kommentare