Mo., 11.12.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Fragwürdige Geschäfte mit Blinden
Das russische Fernsehen berichtet ausgiebig über den Tag der Behinderten und Präsident Putin nimmt sich viel Zeit für den Dialog mit dieser Bevölkerungsgruppe. Im Herzen Moskaus treffen sich Behindertengruppen aus dem ganzen Land zu Wettbewerben: Mode etwa, von Behinderten für Behinderte. Der Präsident wird den Gewinnern später gratulieren und loben, wie erfolgreich Behinderte inzwischen in die russische Gesellschaft integriert wurden. Es sind schöne, ermutigende Bilder.
Der Sieben-Stunden-Pendler
Etwas abseits wirbt ein Mann für das Moskauer Blindenwerk Kunzewo. Er kommt aus der Kaluga-Region: "Da, bei mir zuhause gibt es einen Betrieb, aber das ist eine andere Arbeit und schlechtere Bezahlung." Fast sieben Stunden sei er jeden Tag unterwegs, erzählt Alexander, um hier in Moskau Steckdosen zu montieren. Wir wollen wissen, was Alexander zum Extrempendler macht und sind vorausgefahren: abends um sechs kommt er mit dem Vorortzug aus Moskau an. Dann nimmt er den Bus. Es sind lange Tage: aufgestanden ist Alexander heute Morgen um halb vier. Ist das nicht ein hoher Preis für etwas mehr Gehalt? "Klar ist das hart, aber es lohnt sich!" Alexander muss noch einkaufen und verabschiedet sich.
Wir sind in Rusinovo: Die Sowjets machten Rusinovo in den Achtzigern zu einem behindertengerechten Zentrum für Blinde aus dem ganzen Land. Längst vorbei: Die Blinden sind geblieben, doch die Infrastruktur ist verfallen. Eine Marktfrau beschreibt: "Ich sehe doch, wie viele hinfallen. Die kommen aus dem Haus und sind sofort auf der Straße. Die Autofahrer sehen nicht, wer blind ist; viele werden überfahren!"
Einst Vorzeigesiedlung – heute Verfall
Löchrige Straßen, kaum gesicherte Gehwege – seit Jahren verspricht die Stadt einen kleinen Park für Blinde: Klagen, die der örtliche Blindenvertreter im Stadtrat immer wieder vorträgt. Alexander Rakovitsch ist von den Blinden der Stadt einstimmig gewählt worden. Für die anderen Lokalpolitiker ist er jedoch ein unbequemer Kollege, merken wir schnell: Die Stimmung ist gereizt.
Die größten Probleme hat Rakovitsch jedoch mit dem eigenen Blindenverband, erzählt er, dem dieses Werk in Rusinovo gehört. Hier hat er ein kleines Büro, einen Versammlungsraum – der Rest ist fast vollständig an kommerzielle Unternehmen vermietet. Die Pförtnerin zeigt uns die Fotos aus der guten, alten Zeit: Der Blinden-Chor, Tanz und Theater – damals, als hier noch 600 Sehbehinderte Bauteile für den Sowjet-Fernseher "Rubin" herstellten. Heute arbeiten gerade noch 45 Blinde hier, für Hungerlöhne.
Den Großteil des Werks vermietet der Blindenverband an kommerzielle Firmen. Doch wohin diese Mieteinnahmen fließen, erfährt Rakovitsch nicht. Er weiß nur: "Wir Sehbehinderten hier erhalten von unserem Verband nichts. Die sind nicht an uns Blinden interessiert, nur an Geld."
Warum bekommen die Blinden kein Geld?
Etwa 150 Euro monatlich verdienen die Blinden hier – weniger als die Hälfte der Moskauer Sätze. Doch unser Versuch, die Blindenwerkstatt zu filmen, scheitert schnell am kommerziellen Direktor, den der Blindenverband hier einsetzte. Der regionale Verbandsvorstand habe die Dreharbeiten verboten, so die Begründung.
Was geht hier vor? Allein 200 Beschäftigte hat die Pralinenfirma, die in den Gebäuden des Blindenverbandes produziert. Wohin fließen die Mieteinnahmen, wenn Rakowitsch für die 120 Blinden der Stadt keinen Rubel bekommt?
Rakowitsch will uns Dokumente zeigen, und wir staunen schnell nicht nur über seine Fertigkeiten am Computer: In einem offenen Brief an Putin klagen 2000 Blinde den eigenen Verbandsvorstand an wegen Vetternwirtschaft und Diebstahl: Verbandsgebäude seien gezielt unter Marktwert verkauft worden – Ziel: Bereicherung des Vorstandes. Der Rechnungshof bestätigt: Von den hohen staatlichen Zuschüssen gab der Verband keinen einzigen Rubel für neue Behindertenarbeitsplätze oder soziale Hilfen weiter. Dennoch: Putin gegenüber sitzt der verantwortliche Verbandschef, seit 30 Jahren im Amt. Er wurde nur kurzzeitig suspendiert...
Wir fahren nach Kaluga. Die regionale Leitung des Blindenverbandes hat uns inzwischen sogar verboten, das Büro von Rakovitsch in Rusinovo zu betreten. Warum? Der Mann in Tarnjacke ist der Sohn der Verbandschefin hier: er arbeitet als Buchhalter seiner Mutter, erfahren wir. Elena Poljanskaja weigert sich, uns oder Rakovitsch Unterlagen zu den Mieteinnahmen in Rusinovo zu zeigen: "Warum sollte ich ihm jedes Jahr die Bilanz zeigen?! Und wenn Sie mir nicht glauben, worüber sollen wir dann überhaupt reden?"
Vor Gericht hat sie eine Verleumdungsklage gegen Rakowitsch, ihren Kritiker, unterstützt: "Wenn das Gericht jetzt entscheidet, dass Rakovich ein Lügner ist, dann ist er vorbestraft. Er fliegt aus dem Stadtrat und aus vielen anderen Positionen. Er ist ein Lügner, vorbestraft, wird als Mitglied des Blindenverbandes ausgeschlossen und ist damit nicht mehr Leiter der lokalen Blindenvereinigung. So wird alles aufhören."
Urteil gegen Rakowitsch
Sie scheint zu wissen, wie das Urteil gegen Rakowitsch ausfallen wird; es ist schon die Berufungsverhandlung. Zwei blinde Frauen wollen ihn unterstützen; drehen dürfen wir auch hier nicht.
Es ist eine absurde Anklage: In einer E-Mail soll Rakowitsch dem kommerziellen Direktor des Werks Bestechung vorgeworfen haben. Doch das einzige Beweisstück, die E-Mail, wurde nachträglich umgeschrieben, sagt Rakowitsch. Der Blindenverband wolle auch das Werk in Rusinovo verkaufen, sagt Rakowitsch. Er habe das bisher verhindert – darum der Hass auf ihn.
"Sieg der Gerechtigkeit..." – Rakowitsch wurde verurteilt. Jetzt kann er tatsächlich seinen Sitz in Stadtrat und Blindenverein verlieren.
Seine blinden Begleiterinnen sind erschüttert: "Das bedeutet, dass 200 Blinde jetzt seine Hilfe verlieren. Er hat so gut gearbeitet."
Doch eine Instanz bleibt ihm noch, sagt Rakowitsch trotzig, ihm und den Blinden von Rusinovo...
Autor: Udo Lielischkies, ARD Moskau
Stand: 31.07.2019 16:27 Uhr
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