Mo., 16.10.17 | 05:00 Uhr
Das Erste
Türkei: Fluchtpunkt Izmir
Feiern, Liebe, Freiheit - davon handelt dieser Song aus den 70ern. Seit knapp drei Jahren lebt Banu Karagülle in der türkischen Küstenstadt Izmir. Seitdem, so Banu, passe das Lied wieder richtig gut zu ihrem Leben. Einmal im Jahr demonstrieren Izmirs Frauen bei einer Fahrradtour, wie frei und modern sie sind. Dabei geht es jedoch nicht um Feminismus, sondern vielmehr um die Leichtigkeit des Seins: "Es ist so wunderbar: Die Frauen hier leben ihre Gefühle ganz offen. Heute ist ein Tag, an dem sie ihre fröhliche Seite zeigen: sie kleiden sich schön, tanzen und springen und zeigen, wie groß ihr Selbstbewusstsein ist."
Lebenslust auf dem Rad
So eine Fahrradtour, mit knappen Kleidern und viel Haut, das ist in der Türkei nur noch an wenigen Orten möglich. Die Idee entstand in Izmir. Sema Gür, Organisatorin der Fahrradtour schön gekleideter Frauen, ist stolz: "Die Frauen von Izmir sind großartig und selbstbewusst. Natürlich sind die Frauen in anderen Städten auch toll. Aber Izmir hat eine besondere Vergangenheit: Es ist eine Hafenstadt, in der viele Kulturen zusammen gelebt haben. Und wir leben das weiter."
"Izmirs schöne Frauen, ihr seid großartig!", ruft eine Frau den Radfahrerinnen zu.
Die Viermillionen-Hafen- und Handelsstadt an der Ägäis wurde jahrhundertelang von griechischer, französischer und italienischer Kultur geprägt. Die Bevölkerung wählt zu 70 Prozent säkular ausgerichtete Oppositionsparteien. Die AKP des türkischen Staatspräsidenten Erdogan bekommt hier bisher keinen Fuß auf den Boden. Und immer mehr Türken, die säkular und frei von politischem Druck leben wollen, ziehen nach Izmir, so wie Banu, die zuvor in Istanbul gelebt hat: allein im letzten Jahr 20.000 gut ausgebildete Arbeitnehmer, so die Statistik.
Liberal und sicher
In Izmir, sagt Banu, könne sie um zwei Uhr nachts sicher und ohne belästigt zu werden ausgehen. Kein islamisch-konservativ geprägter Mann käme auf die Idee ihr eine Moralpredigt zu halten, wenn sie feminin gekleidet ist: "Istanbul ist zwar auch eine europäische Metropole. Aber in Istanbul kann man nicht überall so rumlaufen wie hier. Besonders in den letzten Jahren muss man in der Öffentlichkeit in verschiedenen Stadtteilen aufpassen, wie man sich kleidet."
Strenges Istanbul
Istanbul, die Metropole am Bosporus, verändere sich zum Negativen, kritisieren immer mehr säkular geprägte Türken. Statt Touristen aus Westeuropa bestimmten mehr und mehr arabische Gäste und ein islamisch-konservativer Lebensstil das Stadtbild. Misbach Demircan gehört zur Erdogan-Partei AKP und ist Bürgermeister des Stadtteils Beyoglu, dem historischen Kern auf der europäischen Seite Istanbuls: "Wir lieben die Europäer, wir vermissen sie, wir warten auf sie. Aber Istanbul ist ein tolles Reiseziel. Wenn einer nicht kommt, dann kommt eben der andere. Der Kunde ist König, wer kommt, den bewirten wir."
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Istanbul hat nach wie vor ein aufregendes Nachtleben. Vor allem in Beyoglu wird am Wochenende gefeiert. Dennoch, inzwischen beschweren sich einige Gastronomen, Behörden würden das Sperrstundengesetz immer rigider auslegen und die Alkoholsteuer explodiere.
Tarkan Konar, Vorsitzender des Vereins der Barbesitzer, Beyoglu: "Regelmäßig werden Bars und Kneipen überprüft; sie bekommen hohe Strafen. Der Ausschank von Alkohol wird nicht direkt verboten. Aber man macht kaum noch Gewinn. Der Hintergrund ist, dass alles konservativer wird."
So kehren viele Istanbuler ihrer Stadt den Rücken und kommen in das bunte und freie Izmir, wie sie sagen. Dort hoffen sie, dass der islamisch-konservative Lebensstil die Küstenstadt nicht erreicht, wie auch eine Teilnehmerin des Fahrradkorsos sagt: "Wir sind sehr besorgt, wir fühlen uns bedrängt. Wir denken, wir sind weniger geworden und deshalb haben wir große Sorgen. Viele scherzen, man sollte einen eigenen Pass für Izmir einführen. Ich hoffe, dass hier alles bleibt, wie es ist."
Andere sind optimistisch und glauben, der Esprit der Stadt könnte eines Tages die ganze Türkei beeinflussen, wie Sema Gür hofft: "Gerade die türkischen Frauen sollten raus auf die Straße, in die Öffentlichkeit gehen. Wenn Frauen auf die Straße gehen, verändert sich die Welt."
Daran glaubt auch Banu, die inzwischen zu einer echten Lokalpatriotin geworden ist. Izmirs Frauen zeigen, die Türkei ist viel mehr, als die Geschichten und Bilder, die in den letzten Monaten aus dem Rest des Landes erzählt wurden.
Autor: Oliver Mayer-Rüth, ARD Istanbul
Stand: 31.07.2019 05:52 Uhr
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