Mo., 19.09.16 | 05:00 Uhr
Das Erste
Spanien: Politische Siesta
Hier haben sie die Schnauze voll. Im kleinen Dorf Tabera de Abajo wächst der Widerstand gegen Neuwahlen. Bei den Menschen gibt es kein Verständnis für Politiker, die eine Regierung einfach nicht zustande bringen. "Die in Madrid sollten verstehen, dass sie sich um Spanien kümmern müssen, um die Armen und die Alten. Die Politiker machen gar nichts, ohne Regierung gibt es nur Stillstand", verlangen Einwohner.
Im Rathaus von Tabera de Abajo geht man einen Schritt weiter. Wenn es bis Ende Oktober in Madrid keine Einigung gibt und Weihnachten erneut gewählt werden müsste, dann sagt Bürgermeister José Antonio Sánchez: Nicht mit uns – sein Gemeinderat hat einstimmig beschlossen, keine Wahlurnen aufzustellen. Ziviler Ungehorsam von einem konservativen Bürgermeister: "Die Parteien reden ständig von roten Linien, aber für uns ist die Familie die rote Linie. Man muss diesen Feiertag und die Familie respektieren."
Ein Land ohne Regierung
In der Hauptstadt Madrid fühlen sich die Journalisten wie in einer Endlos-Schleife: seit neun Monaten und zwei Wahlen bleibt das Land ohne neue Regierung. Keine Partei hat die absolute Mehrheit, aber zu einer Koalition können sie sich nicht zusammenraufen.
Der konservative Ministerpräsident Rajoy möchte gerne eine große Koalition mit den Sozialisten, doch die wollen nicht mit ihm. Wenn Rajoy redet, lächelt Sozialistenführer Sanchez gequält. Und wenn Sanchez Rajoy wegen der Korruption in dessen Partido Popular kritisiert, blickt der irritiert. Frischen Wind hatten sich viele von den Neuen im Parlament erwartet, Pablo Iglesias von der linken Protestbewegung Podemos und Albert Rivera von der liberalen Ciudadanos-Partei. Doch die können auch nicht miteinander, und verhindern so mögliche Mehrheiten. Einig sind sie sich nur im großen Nein.
Korruption beeinflusst die Wahlen
"Wir haben hier eine Kultur der Konfrontation, zwischen zwei großen politischen Familien. Die sehen in der Macht die Lizenz zur Alleinherrschaft. Es ist diese Kultur, die eine Einigung zwischen Rechten und Linken verhindert". Der Wahlforscher Miquel macht das Erbe der Franco-Zeit für die Blockade mitverantwortlich – noch immer sähen beide Blöcke das Land als ihren Privatbesitz an. Das führe auch zu einer unglaublichen Korruption, bei Sozialisten und Konservativen.
Beispiele: der frühere Minister Rato der konservativen PP. Vorwurf: Geldwäsche, Steuerbetrug, Missbrauch von dienstlichen Kreditkarten. Der frühere Schatzmeister der PP, Luis Barcenas – er soll Schwarzgeld-Konten in Millionen – Höhe geführt haben. Und aktuell: der frühere Minister Soria – wegen der Panama Papers zurückgetreten, sollte er dennoch einen Job bei der Weltbank bekommen. Die Liste ist endlos.
"In jedem anderen Land der Europäischen Union wäre das unvorstellbar, der Schatzmeister sitzt im Gefängnis, und sein Parteichef macht einfach weiter. Natürlich müsste Rajoy zurücktreten, das würde sich in einer Demokratie so gehören", erläutert Jaime Miquel.
"Die Politiker dagegen kriegen ihr Geld fürs Nichts tun."
Spaniens Komiker haben nur noch Spott übrig für ihre Politiker, die solange wählen lassen, bis es passt. Hauptsache, für sie ist immer noch was drin. Neben dem Spott wächst der Frust – gerade bei der jungen Generation. Die Jugend-Arbeitslosigkeit ist mit mehr als vierzig Prozent immer noch extrem hoch. Die jungen Leute warten auf Jobs, aber dafür müssten weitere Reformen auf den Weg gebracht werden. Ohne Regierung – unmöglich.
"Viele Menschen haben keine Arbeit, und schlagen sich irgendwie durch. Die Politiker dagegen kriegen ihr Geld fürs Nichts tun. Einfach unglaublich, sie treffen keine Entscheidungen", beschwert sich ein Einwohner.
Die Zeit läuft gegen Spanien
Auch in der Börse von Madrid spürt man Verunsicherung. Noch läuft es ganz gut ohne Regierung, erklärt uns Ökonom Raymond Torres, Bauindustrie, Exporte und Tourismus boomen. In diesem Jahr werden stolze drei Prozent Wachstum erwartet. Doch das wird nicht so bleiben. "Ohne Regierung kann kein neuer Haushalt verabschiedet werden, der alte wird dann nur verlängert, und das bedeutet große Probleme für die öffentliche Verwaltung und das Funktionieren der Wirtschaft."
Und so wird eine ganze Reihe von Entscheidungen verzögert, etwa im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die öffentliche Verschuldung. Die Zeit läuft gegen Spanien – mehr als 260 Tage ohne Regierung. In Tabera de Abajo hofft man inständig, dass es noch vor Weihnachten eine Lösung gibt. Aber wenn nicht, ist man zum äußersten bereit.
"Der Weihnachtstag ist doch ein heiliger Tag für die ganze Familie. Da werden wir keinen zum Wählen herausschicken, nein, da machen wir nicht mit", sagt der Bürgermeister José Antonio Sánchez Gil. Und so wächst der Widerstand in einem kleinen Dorf in Kastilien. Sie wollen sich nicht mehr alles von ihren Politikern in Madrid bieten lassen.
Autor: Stefan Schaaf/ARD Studio Madrid
Stand: 12.07.2019 19:21 Uhr
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