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Chile: Colonia Dignidad – Ein Albtraum, der nicht endet

Chile: Colonia Dignidad – Ein Albtraum, der nicht endet | Bild: SWR

Es frustriert Doris Zeitner, wenn sie ihre Aktien anschaut. 51 Stück besitzt sie – von Nachfolgeunternehmen der einstigen Sekte Colonia Dignidad in Chile. Der Wert: circa Dreitausend Euro: "Das bringt mir gar nichts. Das ist ein Stück Papier. Ich habe kein Mitbestimmungsrecht. Ich habe kein Entscheidungsrecht. Das ist einfach ein Stück blaues Papier."

Doris wurde in die Sekte hineingeboren. Noch heute leiden sie und ihr Mann unter den Qualen von 40 Jahren Zwangsarbeit – ohne Lohn. "Ich habe damals gedacht, das gehört sich so. Mir hat das ja nie einer erklärt. Wir haben ja auch keine Arbeitsverträge gesehen, dass wir dann Fragen stellen konnten. Oder dass man sich Ideen machen konnte. Die Mädchen und die Jungs hatten ja einen schlauen Kopf. Aber gerade diese schlauen Köpfe hat man möglichst alle unter Tabletten gestellt."

Die "Kolonie der Würde" – wie sie sich selbst nannte, war in Wahrheit eine streng abgeschirmte Sekte. Mit Prügelstrafen, Sklavenarbeit und Folter. Angeführt vom pädophilen Sektengründer Paul Schäfer. Seit den 60er Jahren kam die Sekte – vor allem unter der Pinochet Diktatur – zu großem Vermögen. Riesige Wälder und Ländereien am Fuße der chilenischen Anden. Forst- und Agrarbetriebe, eine Eierfarm, zeitweise sogar der Abbau von Gold.

Die Sektenführung machte Millionengewinne. Sie wurde lange als gemeinnütziger Verein geführt. Im Jahr 1989 jedoch übertrug die Führungsclique – vor der Flucht und Festnahme Paul Schäfers – das gesamte Vermögen in eine Holding mit mehreren Aktiengesellschaften. Eine verschachtelte Firmenstruktur, offenbar nur mit einem Ziel: Die Sektenführung sollte nach Schäfers Tod die operative und finanzielle Kontrolle behalten. Die Kolonie wurde in Villa Baviera umbenannt. Die Firmenholding verteilte einige wenige Aktien an ehemalige Arbeitssklaven.

In einem Brief von 1998, der uns vorliegt, forderte Schäfer seinen Führungskreis auf, dafür zu sorgen, dass kein Opfer "ein Recht auf Auszahlung oder Entschädigung" für jahrzehntelange Zwangsarbeit bekomme. Dies sei eine Maßnahme gegen "Untreue und Abtrünnige".

Die Opfer, sagt Winfried Hempel, selbst ehemaliger Colono – ein Arbeitssklave – warten bis heute vergeblich auf eine Entschädigung der Firmen für erlittenes Leid: "Das ist ein Schweigekartell. In der Kolonie gibt es heute in der Führung die so genannte Omertá. Das existiert und da kommst Du nicht rein, das ist so. Die Firmen schulden den so genannten Colonos 45 Jahre Lohn und 45 Jahre Abgaben für Renteneinzahlungen. Und haben bis heute nicht einen Peso oder Euro an irgendeinen Colono gezahlt."

Der Großteil der Aktienpakete ging damals an die Führungsclique. Ebenso wie die meisten Direktorenposten der Firmen. Heute sind es vor allem die Erben, die Söhne der ehemaligen Sektenführung, die die Unternehmen leiten. Und gut dotierte Führungsjobs haben. Thomas Schnellenkamp ist heutiger Firmenchef der Villa Baviera. Sein Vater Kurt wurde einst wegen "systematischer Verbrechen" und als Mitglied einer "kriminellen Vereinigung" in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der Sohn sieht heute, dass das ehemalige Sektenvermögen ungerecht verteilt wurde. "Die Aktienverteilung ist, möchte ich sagen, ein Thema, das nicht fair ist aus heutiger Sicht", saht Thomas Schnellenkamp, Direktorium Villa Baviera. "Das hängt mit Vererbung zusammen und damit, wer damals wieviel mit hineingebracht hat und so weiter. Das ist aus heutiger Sicht nicht mehr ganz fair, die Sache."

Auf der Liste der Erben aus dem Führungskreis ist auch der heutige Direktor der Agrarbetriebe. Dessen Vater war ein Vertrauter von Paul Schäfer. Auf der Liste auch: Hans Jörg Schreiber: Sein Vater war einst Finanzchef der Colonia Dignidad. Dieser entzog sich der chilenischen Justiz mit seiner Flucht nach Deutschland.

Hans Jörg Schreiber selbst ist jahrelang für juristische Angelegenheit von Nachfolgefirmen zuständig. Ein Papier, das uns ein ehemaliges Sektenmitglied zuspielte, dokumentiert den Versuch, Opfer mundtot zu machen – so drückte es das ehemalige Sektenmitglied uns gegenüber aus. Im Tausch gegen ein Stück Land, sollten ehemaligen Sektenmitgliedern "exklusive Rechte für die Nutzung ihrer Lebensgeschichte" und von "Einzelerlebnissen" abgekauft werden. Sollte so erreicht werden, dass die Gräuel von damals heute nicht mehr öffentlich erzählt werden?

Wir wollen Hans Jörg Schreiber mit den Vorwürfen konfrontieren. Er lehnt ein Interview ab und bezieht auch uns gegenüber schriftlich nicht dazu Stellung. Manche Opfer sagen: Für sie lebe die Hierarchie der ehemaligen Sekte weiter fort. Aber warum wurde die wirtschaftliche Struktur nach der Verurteilung Paul Schäfers nicht einfach aufgelöst? Und das Vermögen als Entschädigung auf die ehemaligen Zwangsarbeiter verteilt? 2005 etwa sprachen die chilenische Regierung und das Auswärtige Amt über die Zukunft der Villa Baviera.

Das Amt teilt uns mit: Eine rechtliche Möglichkeit, die Aktiengesellschaft ganz aufzulösen, habe für die deutsche Seite nicht bestanden Dafür habe das Amt ab 2008 Mittel bereitgestellt, um die Bewohner psychosozial zu stabilisieren. Neben "sozialen Maßnahmen" seien auch Gelder für Betriebsberatung – und in nicht näher bezeichnete – "Infrastrukturprojekte" geflossen.

Opfer klagen: Dort wo früher missbraucht und gefoltert wurde, gebe es heute Bier und Schweinebraten, aber keine Gedenkstätte. Kein Erinnern. Auf Initiative des deutschen Bundestages ist Doris Zeitner mit anderen Opfern im Juni nach Berlin gereist. Sie fordert, dass auch Deutschland Opfern wie ihr hilft, endlich Geld aus dem Sektenvermögen zu erhalten – nach 40 Jahren Zwangsarbeit. Ihre Sicht: "Wir stehen alleine. Ich stehe auch alleine mit meiner Familie. Was das Auswärtige Amt entschieden hat oder auch was an finanziellen Sachen schon in die Kolonie gesteckt wurde, ging in den Tourismus, in andere Sachen. Aber ich habe keinen einzigen Cent gesehen, echt. Keine einzigen. Das tut mir weh, dass Firmen unterstützt werden und die einzelnen, die es wirklich bedürfen, nicht belangt werden", sagt Doris Zeitner, Ex-Sektenmitglied.

Das Erbe des Sektenführers Schäfer – es wirkt – sagen Opfer heute – beinahe teuflisch. Weil es dafür sorge, dass sie als ehemalige Arbeitssklaven bis heute in Armut leben.

Eine Reportage von Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro

Stand: 24.03.2021 03:03 Uhr

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