Mo., 25.04.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Frankreich – Wie werde ich ein guter Franzose?
Malaury Agador-Thimon, Schülerin: "Wenn ich glücklich sein möchte, muss ich verstehen, dass alle Männer und Frauen mein Bruder oder meine Schwester sind, egal welche Rasse, Religion, Herkunft sie haben."
Marwan Aboutaher: "Wenn ich glücklich sein möchte, muss ich die Wahrheit lieben und diese mit Bescheidenheit suchen."
Malaury Agador-Thimon, Schülerin: "Wenn ich glücklich sein möchte, muss ich versuchen Frieden zu schaffen, denn ich weiß, dass die Stärke darin liegt, friedlich zu sein."
Das sind einige der goldenen Regeln, die jeder Schüler hier befolgen muss. "Schauen Sie mir in die Augen. Guten Tag, wie geht es Ihnen. Danke.“ Jeden Morgen – das gleiche Ritual. Lehrer und Direktor begrüßen die Schüler mit Handschlag. Nicht nur das – jeder Schüler wird gesiezt. Egal wie alt er ist.
Auf dem Stundenplan: Patriotismus
Auch das ist ein Ritual: Jeden Morgen um halb zehn steht Patriotismus auf dem Stundenplan. Das ist keine Selbstverständlichkeit für die Jungen und Mädchen hier. Sie leben in den Vororten von Paris, kommen meist aus Familien, die wenig Geld haben und auch sonst in der französischen Gesellschaft nicht gerade anerkannt sind. Ihre Eltern kommen aus Marokko, Algerien, dem Senegal.
Hier sind alle gleich. Grüner Pullover für die Jungs, ein roter für die Mädchen. Die Saint–Exupéry Schule in Asnières will ihnen eine Chance geben, will ihnen helfen gute Franzosen zu werden.
"Was wollt ihr sein? Unterwürfig oder aufrechte Bürger? Was wollt ihr sein? Unbedeutend oder nützlich?", fragt Schuldirektor Patrick Bergot.
Die Uniform als Privileg
Die Uniform zu tragen ist ein Privileg. Doch wer die Regeln missachtet, muss in Zivil kommen. Ghania bittet an diesem grauen Morgen um die Uniform. Vor ein paar Tagen hatte sie hatte den Unterricht gestört. Der Schuldirektor fragt: "Welche Anstrengungen wollen Sie unternehmen, um die Uniform wieder zu verdienen?"
Ghania Handouci: "Sprich zur Gemeinschaft. Ich werde mein Bestes geben, um die goldenen Regeln zu respektieren, mein Verhalten zu verbessern und die Lehrer zu achten."
Patrick Bergot, Schuldirektor: "Gut, wir haben Ihr Engagement gehört und wir sind alle sehr glücklich, Sie wieder in ihrer Uniform zu sehen. Und sich wieder in die brüderliche Gemeinschaft der Schule Saint Exupery einzufügen."
Strenge Regeln, straffe Hierarchien, jeder Widerspruch und jede Regelverletzung wird sanktioniert. Das alles klingt nach Regeln einer Schule aus dem 19. Jahrhundert, die kleine Untertanen heranziehen will. Doch das Konzept von Patrick Bergot kommt an. Der ehemalige Manager, der in London für eine Bank gearbeitet hatte, hat letztes Jahr umgesattelt. Statt kapitalistischer Gewinnmaximierung vermittelt der Franzose nun preußische Tugenden:
"Die Marseillaise zu singen, heißt nicht, dass wir zu alten Werten zurückkehren. Es heißt ganz einfach, den Kindern den Wert ihrer Herkunft neu beizubringen. Denn jemand, der entwurzelt ist, wird proletarisiert. Jemand, der an einem Ort verwurzelt ist, kann seine Äste entwickeln und ein inneres Gleichgewicht finden."
Integration über Disziplin
Das Gleichgewicht der 12–jährigen Malaury ist heute allerdings gestört. Sie hat eine Klassenarbeit zurückbekommen und ist enttäuscht: "Ich bin unterm Durchschnitt. Manchmal machen meine Sätze einfach keinen Sinn. Aber hier lernt man ohne sich zu langweilen und man hat auch noch Spaß dabei. Hier gibt man mir eine Chance erfolgreich zu werden."
Erfolg kennen die meisten Bewohner in den Banlieues, den oft benachteiligten Vororten von Paris nicht. Viele Immigranten leben hier, denen es die französische Gesellschaft immer noch schwer macht, sich zu integrieren. Besonders trist ist die Situation der Jugendlichen – über 40 Prozen sind arbeitslos. Deshalb ist es für Malaurys Eltern so wichtig, dass ihre Tochter eine gute Schulbildung bekommt.
"Es stimmt, die Jugendlichen integrieren sich nicht. Wenn ich um mich gucke, dann sehe ich viele Eltern, die resignieren. Die Kinder werden immer schwieriger. Und wenn man die Chance hat, sein Kind auf eine private Schule zu schicken, dann macht man das", sagt Marinette Thimon, die Mutter von Malaury.
Für die Bildung ihrer Kinder verzichten die Eltern
Dafür schränken sie sich gern ein, verzichten auch mal auf etwas. 70 Euro zahlen sie jeden Monat an Schulgeld – viel Geld für die Familie, die ursprünglich aus den französischen Antillen stammt: "Es gibt Schüler, die haben Potential, die aber an bestimmten Umständen scheitern. Ich glaube, die Schule ist eine gute Chance für Malaury."
Die Kinder gehen gern in diese Schule. Sie werden gefördert und lernen, wie wichtig es ist, gemeinsam mit anderen Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch das gemeinsame Toilettenputzen. Zuhause würde sich Malaury davor drücken: "Man lernt sich selbst kennen. Wir lernen solidarisch zu sein. Uns wie Brüder und Schwestern zu lieben."
Solidarität – das haben die 53 Schüler in dem ersten halben Jahr, seit diese Schule existiert, zum ersten Mal in ihrem Leben kennengelernt. Salma Karroumi: "Meine alte Schule hat nichts gebracht. Ich hatte Probleme mit Mathe und sie haben einfach nur gesagt, dass es nicht schlimm sei und sich nicht gekümmert. Ich wollte aber etwas lernen."
Rayan Saguier: "Ich hab dort noch nicht mal schreiben gelernt." Jetzt kann er schreiben, aber noch lieber mag er den Gesangsunterricht. Sie sind junge Franzosen, die endlich eine Chance bekommen. Vielleicht schaffen sie es auf diesem Weg später einmal als echte Franzosen anerkannt zu werden.
Ein Beitrag von Ellis Fröder/ARD Studio Paris
Stand: 11.07.2019 16:24 Uhr
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